Eine Allianz der Angst hemmt das Denken und die Vernunft

Langfristig sind Aufklärung und Bildung die einzig effektiven Waffen gegen Mörderbanden und eine verfehlte Politik.

So entsetzlich die Anschläge in Paris waren: Noch nie in den letzten 50 Jahren gab es weniger Terroropfer in Europa als in den vergangenen Jahren. Dennoch erklärt man einer Mörderbande den „Krieg“, ruft den „Beistandsfall“ aus und begibt sich damit mutwillig in eine Allianz mit den Terroristen. Aus der konkreten Furcht vor Anschlägen wird heute in der Gemengelage mit den globalen Multitraumata der Zeitenwende diffuse Angst.

Fast unwidersprochen können so die Regierenden unsere Bürger- und Freiheitsrechte demontieren. Natürlich brauchen wir die Polizei – und im Nahen Osten hätte man vernünftigerweise schon längst militärisch eingreifen müssen. Vernünftig? Mit dem Versuch, der Hydra die Köpfe abzuschlagen, stürzt man sich erneut in das bekannte Dilemma des 11. September 2001. Denn ist der IS einmal „vernichtet“ – wird es doch reichlich Nachfolger geben.

Mit Polizei und Militär investiert man quasi in Aspirin. Als Notmaßnahme ist dies unvermeidlich, es ist aber bei Weitem nicht hinreichend. Der Wunsch ans Christkind wäre, die politisch-gesellschaftlichen Ursachen der islamistischen Kopfschmerzen anzugehen. Wieder einmal scheinen Kampf und Waffen das Denken und die Bildung zu schlagen. Warum eigentlich? Wir wissen schon lange, dass Angst das Denken blockiert und dass sie gleichzeitig Zusammenhalt und Konformismus verstärken kann. Menschen in Angst sind wie Schafe lenkbar.

Der Urgrund dafür liegt im Bauprinzip des Gehirns. Vor etwa 600 Millionen Jahren konzentrierten sich in unseren Vorfahren Nervenzellen am Vorderende ihres Körpers, um damit Gefahren zu meiden und in günstigen Situationen zu verweilen. Daraus entstand als komplexestes biologisches Organ überhaupt das menschliche Gehirn. Dummerweise ist es aber immer noch bestimmt vom Gegensatz Vermeiden/Verweilen.

Früh schon entstand mit der Entwicklung der Fähigkeit zu mentalen Repräsentationen aus der Vermeidung die Furcht vor konkreten Gefahren. Angst und Furcht sind eng mit den ebenfalls stammesgeschichtlich uralten Stresssystemen gekoppelt. Die machen unruhig, unterstützen Flucht, Kampf oder In-Deckung-Gehen. In günstiger Umgebung aber wird das Beruhigungssystem aktiviert, besonders ausgeprägt, seit mit der Brutpflege vor Millionen Jahren Bindung, Liebe und Fürsorge in die Welt kamen. Sie hemmt Stress, die mesolimbischen Belohnungssysteme werden angeworfen.

Ein uralter Überlebensreflex schaltet per Stress und negativen Emotionen das kreative Denken, den Sinn für Schönes und positiv Soziales ab. Feinsinnig funktioniert menschliche Vernunft nur in stressarmer Atmosphäre, in der Schule wie im Leben. Der evolutionäre Catch dabei ist, dass Furcht und Angst einfach auszulösen sind, während es erheblicher Anstrengung bedarf, in Ruhe, Freude und Glück die Bedingungen für die volle Entfaltung unserer Denkfähigkeit zu schaffen. Angststörungen und Depressionen sind allgegenwärtig, „Glücksstörungen“ dagegen unbekannt.

Menschen am klaren Denken zu hindern ist also sehr einfach. Die aktuelle Katastrophe besteht daher vor allem darin, dass es den Terroristen gelang, Politiker in ihre Allianz der Angst zu zwingen, nützlichen Idioten gleich. Langfristig sind aber Aufklärung und Bildung die einzig wirksamen Waffen gegen Mörderbanden und verfehlte Politik. Wenn nur die verdummende Angst nicht wäre . . .

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2015)

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