Aufgeklärt-liberaler Pluralismus – eine Ideologie wie jede andere?

Die herkömmlichen Ideologien sind bestenfalls Hüter der Moral, keinesfalls aber ihre Urheber.

Die kleingeistige Aberkennung der Ehrendoktorwürde von Konrad Lorenz durch die Uni Salzburg wurde vom Historiker Klaus Taschwer bereits kompetent kommentiert. Daher scheint es mir zum Jahreswechsel angemessener, jenen heftig zu widersprechen, die nach meinem Kommentar zu den Spartenkindergärten meinten, das Ideal der aufgeklärten, liberalen und pluralistischen Demokratie sei ja auch nur eine Ideologie.

Die Wertvorstellungen aller weltlichen und religiösen Ideologien, egal, ob begründet durch Abraham, Buddha, Jesus, Marx oder Mohammed, leiten Menschen in Glauben und Lebensweise, um letztlich irgendein hehres Ziel zu erreichen; im Hier oder eben im Jenseits. Ihrem Wesen nach sind sämtliche Ideologien deduktiv angelegt: Mittels überlieferter Ideale und Regeln wird der grundsätzlich mangelhafte Mensch korrigiert.

Selbstgewiss stellen sie daher kaum die Frage der Menschengerechtheit. Eine erfahrungs- und erkenntnisbasierte Anpassung grundlegender Prämissen findet im Gros der religiösen und politischen Ideologien nicht statt. Ihre Unfähigkeit, die eigenen Grundlagen zu hinterfragen, teilen sie übrigens mit den abendländischen Philosophien in ihren rationalistischen Verstiegenheiten.

Für den aufgeklärten, liberalen Pluralismus dagegen, die einzige induktive Ideologie, steht der Menschen und seine Erkenntnisfähigkeit im Zentrum. Wir wissen heute unendlich viel mehr als noch vor 20 Jahren, wie unser komplexes, altruistisch-kompetitives Sozialleben evolutionär entstand, wie es über Nerven- und Hormonsystem gesteuert wird, wie Instinkte und Verstand zusammenarbeiten. Und wir wissen heute genau, welch bio-psychologischen Voraussetzungen Kinder benötigen, um zu autonomen, glücksfähigen, kognitiv, emotional und sozial kompetenten Erwachsenen heranzuwachsen – nicht zuletzt Basis für jede wahrhaft humanistische Gesellschaft.

Wir wissen heute, dass die Bereitschaft und Fähigkeit zur Menschlichkeit wie zur Unmenschlichkeit evolutionär begründet sind; kein Widerspruch – man lese nach bei Edward Wilson. Eine universelle menschliche Moral fiel zwar nicht vom Himmel, taucht aber in vielen Religionen auf, etwa im Grundkanon der Zehn Gebote. Doch die herkömmlichen Ideologien sind bestenfalls Hüter der Moral, nicht aber ihre Urheber. Auch sein philosophisch-spirituelles Gehirn ist dem Menschen zugrunde gelegt; in überlebenswichtiger Sinnsuche muss es erklären und hinterfragen.

Unentbehrlich darum für den induktiven Humanismus das Attribut „pluralistisch“. Individueller Glaube und Zugehörigkeiten müssen frei ausübbar sein, solange das große Ganze nicht infrage gestellt wird und das Eigene nicht als Mauer gegen andere dient. Dies impliziert ein Verständnis des aufgeklärten, liberalen Pluralismus als kontinuierlichen gesellschaftlichen Verhandlungsprozess.

Es war mir sehr ernst, als ich letztens in meiner Kolumne meinte, politische und religiöse Indoktrinierung hätten im Kindergarten nichts verloren. Ein Dilemma, denn Eltern wollen ihre Kinder den eigenen Idealen und Anschauungen entsprechend unterbringen. Für die Entwicklung einer stabilen und konfliktarmen Demokratie muss aber dennoch das Gemeinsame im Mittelpunkt stehen. Spartenkindergärten aller Art sind dann gefährlich, wenn sie nicht intensiv und kontinuierlich integrativ arbeiten.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2015)

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