Türkische Fahnen und das Bauchweh eines Wissenschaftlers

Wir müssen mehr in Bildung, Unis, Forschung, Integration investieren. Denn die Erdoğans stehen bereits vor der Tür.

Die schöne türkische Fahne ist Symbol einer uralten Kulturnation. Geschwenkt wurde sie gerade in Österreich, weil man in der Türkei versuchte, die gewählte Regierung wegzuputschen. Wäre dies der einzige Grund für den Protest der türkischstämmigen Landsleute, würde ich dem Leserbrief des Botschafters der Türkei, Hasan Göğüş, vom 21. 7. zustimmen. Aber man kann den berechtigten Protest gegen den Putsch nicht von der Begeisterung für Recep Tayyip Erdoğan trennen. Er bereitet seine absolute Machtergreifung schon lang durch Knebelung von Journalisten und Intellektuellen vor. Er hat die Situation nun zum Gegenputsch genutzt.

Das massive Vorgehen gegen Lehrer, Uni-Leute und generell gegen die Eliten ist ein Merkmal nahezu aller gewalttätiger Machtübernahmen der Weltgeschichte: Pol Pot, Hitler, Stalin, Kulturrevolution in China, Pinochet etc. – immer waren Intellektuelle und Eliten zuerst dran. Dass Erdoğan nun versichert, die „einfachen Leute“ hätten nichts zu befürchten, passt genau ins Bild, das betonte man immer bei allen diesen Ereignissen.

Für die westlichen Demokratien folgt daraus, dass man einerseits auf große Distanz zu diesem Regime gehen muss, das noch dazu die Netzwerke des IS im eigenen Land duldet. Man muss nun aber vor allem Solidarität mit den türkischen Kollegen üben. Ein paar Hundert bis Tausend von ihnen werden nach Österreich flüchten. Sie sind nicht nur aus Humanität gastlich aufzunehmen, sondern auch als hochwillkommene Verbündete unserer liberalen Demokratie gegen fahnenschwenkende Mobs jeglicher Orientierung.

Dass wir heute offenbar einen Mob türkischer Prägung in Österreich haben, ist Ergebnis jahrzehntelanger verfehlter Einwanderungspolitik und misslungener Integration. Wir nehmen Menschen aus humanitären oder wirtschaftlichen Gründen auf, fragen aber nicht nach ihrer Qualifikation, wie Kanada oder Australien dies tun.

So kamen dieselben bildungsfernen Leute ins Land, die in den vergangenen Jahrzehnten auch Istanbul unterwanderten und Erdoğan an die Macht brachten. Die Integration versagt dagegen bis in die dritte Generation, weil wir schon lang viel zu wenig in Bildung und Integration investiert haben. Das Ergebnis zeigt sich heute auf der Straße. Dass sich Bürger und Gäste des liberalen Österreich bemüßigt fühlen, mit islamischen Parolen für einen Diktator zu demonstrieren, ist ein deutliches Zeugnis des Systemversagens.

Auch in unserer freien Welt werden die bürgerlichen Freiheiten seit Langem scheibchenweise eingeschränkt. Die Selbstzensur unter den Intellektuellen wächst und im Namen der Sicherheit wuchert die Paranoia. Machen wir uns nichts vor: Eine Entwicklung wie in der Türkei ist auch hierzulande möglich, wenn Populismus, Nationalismus und Unbildung weiter wachsen.

Wie jetzt Erdoğan übernahmen weiland die Nazis in Deutschland die Macht – von Wahlen ausgehend und auf den fahnenschwenkenden Mob gestützt. Das heutige Österreich ist gegen solche Veränderungen vor allem deswegen nicht immun, weil eine naiv-populistische Nabelschau schon viel zu lang die Politik beherrscht. Darum einmal mehr mein „ceterum censeo“: Es ist überlebenswichtig, sofort viel mehr an Geld und Augenmerk in Bildung, Universitäten, Forschung und Integration zu investieren.

Die Erdoğans stehen auch in Österreich vor der Tür. Nicht nur für Wissenschaftler ist das ein Grund zur Beunruhigung.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2016)

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