Mit Federn, Haut und Haar: Das evolutionäre Spiel um Fressen und Gefressenwerden...

. . . ließen unseren Vorfahren Kiefer, Zähne und Flossen wachsen, Beine, Flügel – und ein immer größeres Gehirn.

Endlich zeigt der Kolumnist sein wahres, biologistisch-darwinistisches Gesicht, mag angesichts dieser Überschrift so mancher, sich von der Natur emanzipiert wähnende Zeitgenosse denken. Es geht aber hier nicht um hässliche Ideologie, sondern schlicht um das Biologicum in Grünau im Almtal vom 6. bis 9. Oktober.

Wie immer widmen wir uns wissenschaftlich – aus vorwiegend biologischer Sicht – einer zentralen Frage im Leben der Menschen und der anderen Tiere. Heuer geht es um das zweitwichtigsten Thema, also letztlich um eine orale Beziehung zur Welt. Die ist aber beileibe kein Privileg unreifer Zeitgenossen, sie prägt vielmehr die Evolution aller Tiere, einschließlich des Menschen. Als heterotrophe Organismen können wir uns nicht wie die grünen Pflanzen mittels Licht ernähren. Seit den Anfängen bei unseren kieferlosen, filtrierenden Vorfahren vor mehr als 500 Millionen Jahren leben Tiere von anderen Organismen; und sollten dabei möglichst nicht selbst zur Nahrung zu werden.

Diese Zwänge ließen unseren Vorfahren Kiefer, Zähne, Flossen und Schuppen wachsen, schließlich Beine, Flügel und ein immer größeres Gehirn. Das evolutionäre Spiel um Fressen und Gefressenwerden ließ Tiere schließlich auch sozial werden. Denn die Gefahr, selbst zur Beute zu werden, erzwang schon bald, sich zu Gruppen zusammenzutun. Das Risiko etwa, selbst erwischt zu werden, teilt sich durch die Zahl der Individuen in der Gruppe.

In Folge entstanden die geeigneten Sinnesorgane und Nervensysteme, sich mit anderen zu synchronisieren und in Beziehung setzen. Bereits vorhandene Elemente in Gehirn und hormonellem Apparat schlossen sich zu jenen Emotions- und Motivationssystemen zusammen, die bis heute, auch bei uns, für den Gruppenzusammenhalt sorgen. Daraus entwickelte sich letztlich auch die Kooperation. In Grünau werden übrigens Walter Arnold und ich über diese biologisch-evolutionären Zusammenhänge reflektieren.

Gemeinsam ist man nicht nur sicherer, man jagt auch effizienter große Beutetiere, wie etwa bei Wölfen, Schimpansen oder Menschen der Fall. Zusammenarbeit erfordert wechselseitige Toleranz und empathisches Verständnis. Schließlich wird man nur dann wieder zusammen jagen, wenn auch die Beute verlässlich geteilt wird. So gewann das gemeinsame Mahl auch zentrale Bedeutung für den Zusammenhalt. Um das Jagen und gemeinsame Essen entwickelten sich Rituale. Früher gewannen erfolgreiche Jäger soziales Prestige, heute werden Spitzenköche zu Kultfiguren.

Zusammen essen erlangte beim Symbol- und Kulturtier Mensch höchste soziale und spirituelle Bedeutung, wurde etwa im Christentum besonders hoch symbolisch aufgeladen. Zu den kulturell-gesellschaftlichen Bedeutungen der Nahrung werden sich neben dem Mathematiker Karl Sigmund auch der Philosoph Robert Pfaller, die Ernährungswissenschaftlerin Hannelore Daniel und der Ethiker Herwig Grimm so ihre Gedanken machen. Man kann sich übrigens noch anmelden: www.biologicum-almtal.at.

Selbstverständlich ist diese Kolumne Eigenwerbung, aber auch der Versuch, die gute alte Aufklärung ernst zu nehmen. Denn Ludwig Feuerbach liegt mit seinem bekannten Satz „Der Mensch ist, was er isst“, viel tiefgründiger richtig, als ihm vielleicht bewusst war. So hat auch die Umkehrung Sinn: Der Mensch isst, was er ist.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau. Sein neuestes Buch „Hund & Mensch. Das Geheimnis unserer Seelenverwandtschaft“ ist soeben im Brandstätter-Verlag erschienen.

Emails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2016)

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