"Generation Null": Spaniens arbeitslose Jugendliche

(c) REUTERS (Paul Hanna)
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Nach dem Höhenflug der tiefe Fall. Die spanischen Jugendlichen trifft die Wirtschaftskrise besonders stark. Fast die Hälfte hat keine Arbeit – und null Perspektive. Man wundert sich, dass es keine Massenproteste gibt.

Bis zur nächsten Straßenecke führt die Schlange der Wartenden bereits – morgens um neun, als das Arbeitsamt öffnet. Einer von denen, die sich in Parla, einem Vorort im Süden Madrids, vor der Tür die Beine in den Bauch stehen, heißt José Martinez. Seit sechs Uhr wartet der 21-Jährige auf der Straße San Blas, um im Amt zu fragen, ob es in Spanien Arbeit für ihn gibt. „Es ist zum Verrücktwerden“, sagt José. Jeden Monat komme er vorbei. „Nichts. Kein einziges Angebot.“ Seit Jänner geht das so. „Ich habe die Schule mit 15 abgebrochen und auf dem Bau als Maurer angefangen.“ Fünf Jahre zog er täglich Hauswände hoch. Doch als Spaniens überhitzter Immobilienmarkt zusammenbrach, war auch sein Arbeitgeber plötzlich bankrott – und José ohne Job.

Parla gilt als Brennpunkt der Arbeitslosigkeit in der Hauptstadtregion Madrid. Eine Schlafstadt, die vor allem durch Landflüchtlinge aus der Provinz, Immigranten (25 Prozent der Einwohner) und billigen Wohnraum ungezügelt wucherte. Die Hälfte der 108.000 Einwohner ist jünger als 35 Jahre. Die offizielle Arbeitslosigkeit Parlas liegt bei über 20 Prozent, die inoffizielle bei nahezu 40 Prozent.

Als José endlich bis zum Schalter vordringt, ist es elf Uhr. Doch auch heute macht ihm das Arbeitsamt, das in Spanien „Inem“ heißt, keine Hoffnung. „Tut mir leid“, sagt der Berater, „im Moment bewegt sich nichts.“ In der Wirtschaftskrise, die Spanien heftiger erwischt hat als die europäischen Nachbarn, gibt es keine neuen Jobs. Erst recht nicht für junge Leute.



Absturz nach Bauboom. Viele Jahre erstaunte das Aufsteigerland damit, dass es so viele Arbeitsplätze schuf wie sonst kein EU-Land. „Ein wunderbares Wachstum“, jubelte damals José Luis Rodríguez Zapatero, der sozialdemokratische Regierungschef. Dem Höhenflug, angetrieben durch einen irren Bauboom, folgte ein tiefer Fall, nachdem der aufgeblähte Wohnungsmarkt wie ein Kartenhaus zusammengefallen war: Spanien ist heute Europas schlimmster Arbeitsplatzvernichter.

Man wundert sich, dass es in Spanien keine Massenproteste des Arbeitslosenheeres gibt, keine Straßenschlachten perspektivenloser Jugendlicher, keinen Generalstreik. Dabei ist die soziale und wirtschaftliche Lage brisant. Ausgerechnet im dem Staat, der bis Juni 2010 den turnusmäßigen EU-Ratsvorsitz innehat. Und dessen schwächelnder Regierungschef pflichtbewusst gelobte, „die wirtschaftliche Erholung Europas zu stärken“.

Die Gesamtarbeitslosigkeit liegt laut Eurostat bei fast 20 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei dramatischen 42 Prozent, beide Quoten doppelt so hoch wie der EU-Schnitt und weiter steigend. Die Generation zwischen 16 und 25 Jahren leidet unter der höchsten Arbeitslosenquote der EU. „Generation null“ wurde sie von der Tageszeitung „El País“ getauft, weil sie „null Arbeitschancen“ hat.

Unter den vier Millionen Joblosen befinden sich mehr als eine Million Menschen, die nicht einmal ein Anrecht auf Arbeitslosengeld haben. Drei von vier Spaniern bezeichnen die wirtschaftliche Situation in Umfragen als schlecht bis sehr schlecht.

„Wir werden nicht gebraucht.“ Fälle wie den von José gibt es tausende in der Arbeitervorstadt Parla und hunderttausende im ganzen Land. Schulabbrecher machen den Großteil der 875.000 jugendlichen Joblosen aus. Spanien hat, mangels Bildungsinvestitionen, die meisten Schulversager Europas: Ein Viertel der Schüler gibt vor dem mittleren Bildungsabschluss auf. Das rächt sich: In der Krise haben vor allem Unqualifizierte das Nachsehen.

Aber auch junge Akademiker machen die Erfahrung, dass das Studium immer öfter in die Arbeitslosigkeit führt. Etwa Maria Gallego. Die 25-jährige Betriebswirtin aus der Hauptstadt Madrid beginnt den Tag seit Monaten vor dem Computer: durchforsten von Jobportalen im Internet, Bewerbungen für ein Praktikum, Kontakte suchen. „Frustrierend“, sagt sie. „Wir werden wohl nicht gebraucht.“ Überall suche man Kandidaten mit „mindestens drei Jahren Berufserfahrung“. Und unter den Arbeitslosen gebe es derzeit „zehntausende Akademiker mit zehn Jahren Berufserfahrung“.

Die frisch studierten Ingenieure, Architekten, Juristen und Wissenschaftler bevölkern nicht die Arbeitsämter. Weil sie dort weder mit finanzieller Hilfe noch mit Jobs rechnen können. Die Uni-Absolventen machen aber laut offizieller Statistik 25 Prozent der jugendlichen Arbeitslosen aus. Und sie suchen lieber auf eigene Faust.

Adios, Emanzipation. Dass Spanien trotzdem noch ruhig bleibt, ist vor allem dem Umstand zu verdanken, dass in diesem südeuropäischen Land die Familien besser zusammenhalten als in Nordeuropa. Die Familie ist immer noch das beste soziale Netz. Der Nachwuchs, der nach der Ausbildung immer öfter auf der Straße steht, lebt weiter im „Hotel Mama“. Gemeinsam ist das Überleben in der Krise einfacher. Kein Job bedeutet damit andererseits aber auch keine Unabhängigkeit, keine eigene Wohnung. „Ich ziehe zurück zu meinen Eltern“, kündigt Maria an. „Kein Geld mehr.“ Auch der Studentenjob als Hilfskellnerin sei gekündigt worden. Einen Kredit für das Studium müsse sie noch zurückzahlen. „Ich dachte, mir gehört die Zukunft, aber nun fühle ich mich als die große Verliererin.“ Adios, Emanzipation.

Keine Weichen für Zukunft. „In Krisenzeiten ist es üblich, dass die Arbeitslosigkeit unter den Jungen wütet“, sinniert Soziologieprofessor Javier Elzo. Es sei schlicht einfacher und oft „gerechter“, jüngere Beschäftigte zu entlassen, als ältere Angestellte, die von ihrem Lohn eine Familie ernähren müssten. Hinzu kommt, dass gut 90 Prozent der Arbeitnehmer unter 25 in Spanien üblicherweise mit sogenannten „Müllverträgen“ arbeiten: zeitlich befristeten Jobs, die leicht gestrichen werden können. „Die Jungen sind deshalb sehr verwundbar“, bedauert Pilar Duce, Sprecherin der Gewerkschaft UGT.

Verschlimmert wird die Krise durch fehlende Arbeitsmarktreformen, Wettbewerbsmängel, die Bildungsmisere sowie einen spürbaren Forschungs- und Technologierückstand. Jetzt rächt sich, dass der frühere Musterschüler Spanien während des Booms seinen neuen Wohlstand in vollen Zügen genossen, aber keine Weichen für die Zukunft gestellt hat.
Ende der Fiesta. Für 2009 wird ein Haushaltsminus von mehr als zehn Prozent erwartet. Wegen des Konsumeinbruchs, ausbleibender Steuereinnahmen, hoher Ausgaben für die Rettung des Arbeitsmarktes, ungenügender Sparpolitik. 2010 wird, den Analysten zufolge, kaum besser werden. Im Gegenteil: Staat und Bürger werden den Gürtel schmerzhaft eng schnallen müssen. Die Eurostabilitätsgrenze von maximal drei Prozent Defizit liegt in weiter Ferne. Auch eine Herabstufung der Kreditwürdigkeit Spaniens wird nicht ausgeschlossen. Von Fiestastimmung im Land des Flamencos also keine Spur. Spanien ist auf dem Weg, wieder zu einem der großen Sorgenkinder der EU zu werden.

Sogar José Angel Gurria, Generalsekretär der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), hat sich eingeschaltet. Er fordert, der Jobkrise mit entschlossenen Milliardenprogrammen entgegenzusteuern. Sonst, warnt Gurria, werde eine „verlorene Generation“ junger Menschen heranwachsen. José Martinez ist bereits einer von ihnen. Er und viele andere in der langen Schlange vor dem Arbeitsamt in Parla.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.01.2010)

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