Vom Warten auf die Eiszeit

(c) AP (Jonathan Hayward)
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Schmilzt das Eis in der Arktis, schwinden die Überlebenschancen für die Eisbären. Sie sind auf den eisigen Winter angewiesen wie kaum ein anderes Lebewesen. Ein Besuch bei den „weißen Riesen“ im Norden Kanadas.

CHURCHILL. Vom Frühstückstisch kann Andrew Derocher sein Forschungsobjekt sehen. Der Biologe und Eisbärforscher sitzt in der „Tundra Lodge“ an der Hudson Bay im Norden der kanadischen Provinz Manitoba. Die Tundra ist von Schnee bedeckt, die weiße Fläche wird nur von braunen Weidenbüschen unterbrochen. Ein mächtiger Eisbär zieht vorbei. Es ist „Dancer“, benannt nach seinen tanzenden Bewegungen, wenn er auf den Hinterbeinen steht. Der Bär schaut zu den Menschen, die ihn aus sicherer Distanz beobachten. Dann legt er sich in den Schnee und blinzelt in die Arktissonne.

Seit 16 Jahren taucht Dancer regelmäßig im November in der Hudson Bay auf. Irgendwo in der Tundra hat er hungernd den Sommer verbracht, nun wartet er darauf, dass die Bucht zufriert. Das Eis ist sein Leben. Hier kann er Ringelrobben erlegen und sich satt fressen. Die vier- bis fünfmonatige Fastenzeit auf dem Land, während der er kaum Nahrung finden konnte, hat dann ein Ende.

Fastenzeit wird länger

Für schwangere Bärinnen ist der Hunger- und Fresszyklus noch anstrengender: Im November, wenn die anderen Bären zur Jagd wieder aufs Eis ziehen, sucht sich die Bärin an Land eine Höhle, in der sie im Dezember meist ein oder zwei Junge zur Welt bringt. Erst im März verlässt die Bärenmutter mit den Kleinen die Höhle und geht jagen – abgemagert nach neun Monaten des Hungerns. Sie muss dann für sich und die Kleinen möglichst viel fangen, bevor im Sommer die Eisschmelze sie wieder an Land zwingt.

Aber der Rückgang der Eisbildung durch den Klimawandel und der länger werdende Sommer bereiten dem Forscher Derocher Sorge: „Wenn das Eis verschwindet, verliert man das Ökosystem. Die ganze Kette von den Algen über Krabben, Fische und Robben bis zu den Eisbären ist bedroht.“ Die Fastenzeit der Bären wird länger und ihr körperlicher Zustand schlechter. Martyn Obbard von Ontarios Ministerium für Naturschätze stimmt zu: „Wenn wir das Eis verlieren, verlieren wir den Eisbären.“

Die Tundra-Lodge von „Frontiers North Tundra Buggy Adventures“ steht am „Polar Bear Point“, direkt an der Küste der Hudson Bay, etwa 30Kilometer vom Städtchen Churchill entfernt. Wie überdimensionierte Busse sehen die fünf weißen Wagen aus, die 40 Touristen und Wissenschaftler beherbergen. Nur 800 ständige Einwohner zählt Churchill. Aber im Oktober und November kommen tausende Touristen in die „Eisbärenhauptstadt der Welt“, um die Tiere in freier Wildbahn zu beobachten.

Im Frühsommer treibt die Strömung die Eisschollen mit den Bären bei Churchill an Land. Im Spätherbst lassen der Arktiswind und das Frischwasser des Churchill River das Eis hier am schnellsten frieren. Dann versammeln sich hunderte Bären an der Küste und warten nur auf eines: auf den Beginn der Jagdsaison.

Die Wissenschaftler begeben sich in ihren großrädrigen Tundrabuggy. „Buggy One“ heißt das Fahrzeug mit der meterhohen Antenne. Es ist ein über die Tundra rollendes Fernsehstudio. Die Organisation „Polar Bears International“ steht hinter dem einmaligen Bildungsprojekt: Die Forscher sitzen vor ihren Computern. Über Webcam sind sie mit dem Zoo in Pittsburgh verbunden, später schaltet sich eine Schule im US-Staat Oregon dazu. Während der weiße Wagen langsam über die Tundra rumpelt und die Forscher über Klimawandel und seine Folgen sprechen, fängt die Kamera Eisbären ein, die den Weg des Buggy kreuzen oder im Schnee liegen und vor sich hin dösen.

Schon ab 2050 wird's eng

Eine Bärenmutter mit zwei Jungen schlendert über die weite Ebene. Die Bärin verharrt am Wasser, blickt hinaus, dann dreht sie sich um und zieht wieder landeinwärts. Plötzlich bleibt sie stehen. Sie ist nervös. Wenige Meter entfernt taucht zwischen Büschen ein großer männlicher Bär auf. Die Kleinen schmiegen sich an ihre Mutter. Schnell führt sie ihre Jungen weg.

Im Nordpolarraum leben 20.000 bis 25.000 Eisbären in 19 räumlich getrennten Populationen, etwa zwei Drittel der Tiere bevölkern Kanadas Arktis. Aufsehen erregte die Studie der US-Behörde „US Geological Survey“ aus dem Jahr 2007: Treffen die Vorhersagen für die Eisschmelze in der Nordpolarregion zu, führt dies bis Mitte dieses Jahrhunderts zum Verlust von zwei Dritteln des jetzigen weltweiten Eisbärenbestands.

„Selbst wenn die Hudson Bay für einige Monate im Winter zufriert, könnte es nicht genügen, dass die Bären ausreichend Energie für den Sommer speichern“, fürchtet Obbard. Im Durchschnitt muss ein Eisbär 43 Ringelrobben fressen, um sich einen dicken Fettpolster für den Sommer und den Herbst zuzulegen.

„Churchills Eisbären sind eine der Populationen, die wir am besten kennen“, sagt Andrew Derocher, der an der Universität von Alberta in Edmonton lehrt. Mit Wollmütze und arktisfestem Overall steht er vor der Kamera, im Hintergrund die Tundra. Eisbärenforschung ist nicht einfach: Anders als von der Hudson Bay gibt es von Populationen in der Hohen Arktis Kanadas oder in Sibirien wenig Daten. Prognosen haben einen hohen Unsicherheitsfaktor.

Aber dass Klimawandel den Lebensraum der Eisbären verändert, davon sind die Forscher überzeugt. „Ein Symptom ist nicht genug. Aber alles deutet in eine Richtung“, sagt Derocher, der sich gegen die Versuche einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern wendet, Klimawandel zu leugnen.

Die Zahl der Bären an der westlichen Hudson Bay sinkt. Die Forscher glauben, dass es jetzt nur noch rund 935Bären sind, während es vor 20Jahren etwa 1200 waren. Hunderte Tiere haben die Forscher vermessen und gewogen, über Jahre hinweg beobachtet. Sie haben festgestellt, dass die Bären an Gewicht verlieren, sich ihre körperliche Verfassung verschlechtert hat und sie daher immer weniger Nachwuchs kriegen. Mutmaßungen, der Eisbär werde sich schon irgendwie den Veränderungen anpassen, kommentieren die Forscher nur mit Kopfschütteln.

„Über eine Dreiviertelmillion Jahre hat sich der Braunbär zum Eisbären entwickelt. Was aber jetztmit dem Klima passiert, vollzieht sich in 50 Jahren“, sagt Derocher.

Der Tundra-Unterricht ist beendet. Im Licht der untergehenden Sonne zieht ein Bär über die Ebene. Schwarze Flecken auf der Schnauze zeigen, dass es Dancer ist. Jeden Morgen wird er zurückkehren – bis die Hudson Bay zufriert und er zur Jagd hinausziehen kann aufs Eis.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.12.2009)

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