Tschernobyl: Normalität im Ausnahmezustand

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25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe in der Ukraine kehrt zaghaft Leben in die kontaminierte Zone zurück. In der Stadt misst man eine hundertmal höhere Strahlenbelastung als im rund 130 Kilometer entfernten Kiew.

Türen knirschen, ein Brett schlägt im Wind gegen ein Balkongeländer. Dann herrscht Stille, nur weit hinten in den hohen Erlen ist Vogelgezwitscher zu hören. Vor dem sechsten Aufgang am Lenin-Boulevard 10 liegt achtlos hingeworfen eine Puppe in den dürren Blättern. Blondes Haar, die Augen geschlossen, den Kopf zum Himmel gewandt. Im grünen Mülleimer nebenan hat sich Regenwasser gesammelt. Geleert hat ihn seit 25 Jahren keiner mehr. Denn auch dieses Hochhaus wurde am 27. April um zwei Uhr mittags geräumt.

Gut 36 Stunden zuvor war es im vier Kilometer entfernten Reaktorblock Nr. 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl bei einem Sicherheitsexperiment zur Explosion gekommen. Als Erstes wurde die nahe Stadt Pripjat mit ihren rund 50.000 Einwohnern evakuiert. Zunächst nur für drei Tage; doch daraus wurden Monate, Jahre. Zurückkehren konnte keiner mehr.

Die 1970 für die Kraftwerksarbeiter errichtete sowjetische Musterstadt liegt heute in der Zehn-Kilometer-Zone, in der auch 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe niemand leben darf. Bei der klobigen Innerortstafel aus Beton misst man eine hundertmal höhere Strahlenbelastung als in der rund 130 Kilometer entfernten ukrainischen Hauptstadt Kiew.

Die Puppe könnte dem Töchterchen der Maruschenkos, Wohnung 56, gehört haben. Oder der Familie Zgardan ein Stockwerk höher. Die Metalltafel mit der Mieterbelegung hängt immer noch am Elektrokasten im Treppengeschoß. Die Dreizimmerwohnung der Familie Maruschenko ist dagegen längst geplündert. Selbst die Kacheln hat jemand von den Badezimmerwänden geschlagen. Mitten in der Küche steht noch der alte Gasherd, von den Wänden löst sich die Farbe.

Auch der Einkaufsladen „Kolosok“ ein paar Schritte stadtauswärts ist längst ausgeräumt. Eine Holzharrasse steht noch vor der eingeschlagenen Ladentür. In der Nacht zuvor soll im Restaurant auf dem nahen Lenin-Platz eine Hochzeit gefeiert worden sein. Heute hat die Natur Lenin-Platz wie Boulevard mit dichtem Gestrüpp zurückerobert. Vor dem Kulturhaus „Energetik“ haben sich Moose des Asphalts bemächtigt, aus den Rissen wachsen junge Birken.

Vor dieser gespenstischen Kulisse des Zerfalls hat sich Anatolij Gorajev für ein ukrainisches Lokalfernsehen aufgestellt. Der einstige Feuerwehroffizier aus Lviv (Lemberg) hatte in der Unglücksnacht im nahen Tschernobyl Dienst. Ab November 1986 wurde er 45 Tage lang als Liquidator eingesetzt. „Atomanlagen muss man eben so konstruieren, dass sie absolut sicher sind“, sagt er bitter in die Kamera. Als Held fühle er sich heute nicht, erzählt er dann der „Presse“. „Das war meine Pflicht“, meint der heute 55-Jährige.

Radioaktive Strahlung aus den Gräbern

Zur Arbeit als Liquidator hatte er sich ein halbes Jahr nach der Katastrophe freiwillig gemeldet. Gorajev hat bis heute keine Gesundheitsbeschwerden. Doch von den 180 Kameraden seiner Brigade leben nur noch die Hälfte. Die sechs schwersten „Fälle“ seien nach Moskau gekommen. „Ihr Grab wurde meterhoch mit Beton übergossen, doch die Strahlung drang immer noch an die Erdoberfläche“, erzählt der Frührentner trocken.Sasha spricht nicht von Pflicht. „Ich habe keine andere Wahl“, gesteht der Straßenarbeiter im 20 Kilometer entfernten Städtchen Tschernobyl hart und offen. Natürlich habe er Angst vor der radioaktiven Strahlung, sagt der 23-Jährige. An der linken Hand baumelt ein Töpfchen mit weißer Farbe, damit muss er den Mittelstreifen auf dem frischen Asphalt markieren. Auf den Jahrestag hin wurde Tschernobyl eiligst auf Vordermann gebracht. Entlang der neuen Asphaltstraßen kann man ablesen, wohin sich am 26. April die Staatskarossen des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch und seiner Staatsgäste Medwedjew und Lukaschenko bewegen werden.

Freigabe für wirtschaftliche Nutzung

Neben der Ukraine haben Weißrussland und Russland bis heute am meisten unter den Folgen der Reaktorkatastrophe zu leiden. So gingen 70 Prozent des radioaktiven Niederschlags in Weißrussland nieder. Wegen der Nordwinde bekam auch Russland einen Teil des radioaktiven Niederschlags ab. Noch immer sind große Gebiete rund um den Unglücksreaktor in allen drei Ländern unbewohnbar.

„Wir werden die Zonengrenzen anpassen und Gebiete für die wirtschaftliche Nutzung freigeben“, erklärt nun der ukrainische Katastrophenminister Wiktor Bologa im roten Konferenzsaal des stillgelegten Atommeilers. Viele Dörfer seien inzwischen zumindest für Landwirtschaft und Holzindustrie wieder geeignet. Auch im AKW, das sich seit über zehn Jahren in der Liquidation befindet, wird Normalität vorgespielt. In der Betriebsmensa gibt es zur Vorspeise Borschtsch, dann Reis mit Huhn und Beerenkompott.

Den Überlebenden der AKW-Katastrophe würden „katastrophal geringe“ Unterstützungsgelder ausbezahlt, gibt Bologa unumwunden zu. Doch die ukrainische Regierung sei einfach zu arm, um die 2,3 Mio. Tschernobyl-Hilfsberechtigten besser zu unterstützen. Sie leben heute im ganzen Land verstreut, denn evakuiert wurde nicht nur ins nahe Kiew.

Rückkehr mit Duldung der Macht

Den Busfahrer Walery Slutski hatte es damals nach Winnitsa verschlagen, wo ihn allerdings Heimweh plagte. „Im Oktober 1987 kam ich nach Tschernobyl zurück“, erzählt der hoch gewachsene Mittsechziger in seiner braunen Sonnenmütze. Sein mit einem dicken Bretterzaun umfriedetes Holzhäuschen steht beim Opferdenkmal der Feuerwehr.

Eigentlich dürfte er maximal 15 Tage pro Monat in Tschernobyl wohnen, so wie die heute rund 3000 Arbeiter und Wissenschaftler in der Stadt. „Doch die Macht duldete mich von Anfang an“, sagt Slutski lachend. Er gehört zu den rund 300 Rücksiedlern in der 30-Kilometer-Zone. „Meine Eltern kommen von hier“, begründet er seine Rückkehr. Einzig der Kohleofen werde langsam zum Problem. Seit Jahren suche er die Kohle in den verlassenen Häusern zusammen, doch langsam gingen dort die Vorräte aus.

Am Kontrollpunkt Ditjatki, 20 Kilometer südlich von Tschernobyl-Stadt, muss jeder Zonenbesucher nach der Passkontrolle durch den Radioaktivitätsmeter, ein klobiges Metallgerüst. Bei allen leuchtet das grüne Lämpchen. Niemand ist verseucht.

Auf einen Blick

Am 26 April 1986 explodierte nach einem fehlgeschlagenen Experiment der Reaktorblock 4 des AKW Tschernobyl in der Ukraine. Um 23.58 Uhr zerriss eine Knallgasexplosion das Reaktorgebäude, eine riesige Menge radioaktiver Stoffe wurde freigesetzt. WHO und IAEA sprachen 2006 von knapp 50 unmittelbaren Strahlentoten und bis zu 9000 tödlichen Krebserkrankungen. Atomgegner gehen gar von bis zu 250.000 Todesopfern aus. [AP]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2011)

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