Nicaragua: "Das Wetter spielt immer mehr verrückt"

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Symbolbild(c) EPA (Yuri Cortez)
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Im Oktober 1998 verwüstete der gewaltige Hurrikan "Mitch" das Land, er veränderte sogar seine Topografie. Über 4000 Menschen starben, 7000 gelten bis heute als vermisst. Und die Wirbelstürme kommen immer öfter.

Hinter den tief hängenden Wolken zeichnen sich die Umrisse des Vulkans Casitas ab. Seit Tagen regnet es in Strömen. Genau wie im Oktober 1998, als der Hurrikan „Mitch“ über Nicaragua hinwegfegte. Nach zehn Tagen Dauerregen hatte sich der Vulkankrater mit so viel Wasser gefüllt, dass er auseinanderbrach.

Überall liegen Schlamm, Geröll und Leichen. Die zwölfjährige Deyling ist wie in Trance. „Lauf, Mädchen, lauf, der Berg!“, hört sie aus irgendeiner Richtung. Sie sieht nichts, hört nichts, sie rennt ein bisschen, weiß nicht wohin. Sie wundert sich nur, dass der Regen aufhört, denn es regnet seit Tagen pausenlos.

19 Kilometer lange Mure

Das war vor 13 Jahren, als der gewaltige Hurrikan Mitch große Teile Nicaraguas zerstörte. Deyling wohnte in einer Hütte am Hang des Casitas in Chinandega, einem Departamento im Westen Nicaraguas. Ihr Opa schickte sie hinaus, Zigaretten zu kaufen. Da rollte die Schlammlawine vom Vulkan hinunter und riss alles mit, was sich im Weg befand, 19Kilometer weit.

Irgendwie kämpfte sie sich nach Hause durch. Das Haus war leer. „Ich dachte, ich bin allein“, sagt sie, „ich dachte, alle sind tot.“ Doch der Großteil der Familie hatte sich auf einen höher gelegenen Teil des Vulkans retten können. Ein Onkel wurde von Schlammmassen begraben, ein anderer Verwandter sei verrückt geworden.

Noch vier Tage musste Deyling in ihrer zugeschütteten Hütte ausharren, bevor sie vom Roten Kreuz abgeholt wurde. Der Gedanke lässt sie noch heute erschauern. „Wir aßen das wenige, was uns geblieben war, während es nach verwesenden Leichen stank. Und meine Freundinnen tot daliegen zu sehen war furchtbar.“

Mitch hängt bis heute wie ein Trauma über dem Land. Über 4000 Menschen starben, davon mindestens 1500 am Vulkan Casitas, 7000 gelten bis heute als vermisst. Große Teile der Infrastruktur wurden zerstört. Er traf auch Honduras, El Salvador und Guatemala, es war der zweittödlichste Hurrikan seit dem „Großen Hurrikan“ vom Oktober 1780, durch den auf den karibischen Inseln wie Barbados über 22.000Menschen umkamen.

„Rettungsbrigaden“ im Einsatz

Mitch habe Nicaragua verändert, sagt Márcio Vaca vom Institut für Erdstudien in Nicaragua. Die Geografie des Landes sei anders als früher. Flüsse hätten einen anderen Lauf genommen, seien breiter oder länger. Auch das Leben sei seither anders: Katastrophenvorsorge ist nun zentraler Bestandteil des Lebens. Beispielsweise in der nördlichen Region Estelí, wo die Welthungerhilfe rund 80„Rettungsbrigaden“ ausgebildet hat.

Feuerwehrmann Jorge Flores trainiert seit vier Jahren mehrere Brigaden. Seine Schützlinge zeigen bei einem Wettkampf auf dem Hauptplatz von Estelí, was sie gelernt haben: über Seile Robben, Bäume Hochklettern, erste Hilfe Leisten, Schnelligkeit, Reaktionsfähigkeit. „Es ist bewegend, das zu sehen“, sagt Flores. „Es ist das erste Mal, dass so ein Event stattfindet.“

Ein simulierter Erdrutsch

Trotz des Regens haben sich viele Menschen auf dem Platz versammelt. Es herrscht Volksfeststimmung. Lautsprecher beschallen ein Meer aus bunten Regenschirmen und die Tribüne für Ehrengäste. Zunächst wird ein Erdrutsch simuliert, der einen Bus getroffen hat. Schüler mimen Verletzte, haben sich Bandagen um den Kopf gewickelt, Farbe ins Gesicht geschmiert. Sie haben Spaß dabei, während schwitzende Retter sie aus dem Bus holen. Dass aus dem Spiel schon in wenigen Tagen Wirklichkeit wird, wissen sie da noch nicht.

Mit jeder Katastrophe sei die Akzeptanz, in der Prävention zu arbeiten, größer geworden, sagt Jürgen Schmitz, Klimaexperte und Leiter des Vorsorgeprogramms der Welthungerhilfe in Estelí. Denn die Naturkatastrophen häufen sich. Estelí ist besonders verwundbar. Mehrere große Flüsse fließen durch die Region, es gibt immer wieder Überschwemmungen und Muren. „Hinzu kommt die bittere Armut der Leute“, erklärt der Entwicklungshelfer. „Hier oben im Norden liegen laut dem neuesten Human Development Index der UNO die ärmsten Bezirke.“ Nicaragua ist dem Index zufolge nach Haiti und Guatemala das drittärmste Land in Lateinamerika. Die meisten Menschen haben nicht die Mittel, sich gegen extreme Wetterlagen zu rüsten. Wellblech- und Bambushütten verwandeln sich leicht in Spielbälle starker Winde und heftigen Regens.

Seit Mitch hatte zwar kein Hurrikan mehr vergleichbare Zerstörungsgewalt, doch die Chance, dass Wirbelstürme verstärkt auftreten, steigt, sagt der Wissenschaftler Márcio Vaca. Früher habe es in der Regenzeit zwischen Juni und November im Schnitt 9,6Zyklone gegeben, in den letzten zehn Jahren zwölf bis 15. Mit der Erwärmung der Erde erwärmt sich auch die Meeresoberfläche. Eine Temperatur von 27Grad und mehr bilde die Wiege für Zyklone, sagt Vaca.

Immer mehr Extremereignisse

Überhaupt machen Nicaragua immer mehr Extrem-Wetterereignisse zu schaffen: Starkregen, Dürre, Stürme. Der Klimarisiko-Index von „Germanwatch“ stuft Nicaragua an vierter Stelle der Länder ein, die am stärksten von Folgen des Klimawandels betroffen sind.

Aus den Boxen in Estelí schallt die Nationalhymne. Es ist Preisvergabe an die besten Teams. Kaum ist die Übung vorbei, tritt der Ernstfall ein. Nach tagelangem Regen sind Flüsse über die Ufer getreten. Mehrere Dörfer müssen evakuiert werden. Straßenzüge sind überschwemmt, ebenso wie Mais- und Reisfelder. Eine Katastrophe, denn 65Prozent der Nicaraguaner leben als Kleinbauern, viele haben durch die Unwetter ihre Ernten verloren.

Nach zwei Wochen Regen im Oktober zieht Christian Geller, Regionallogistiker der Welthungerhilfe für Mittelamerika und die Karibik, Bilanz: „Knapp 134.000 Personen sind in Not geraten, die Mehrzahl in Estelí. Sie mussten in Sicherheit gebracht werden, viele Häuser und Hütten sind zerstört.“ Auch für den Bezirk Chinandega wurde Alarmstufe gelb ausgerufen. 43 Bauern, die noch am Hang des Casitas leben, werden aufgefordert, in Notunterkünfte zu gehen, denn wieder gerät der Berg ins Rutschen.

Mit dem Regen kommt die Angst

Deyling ist heute 24 und wohnt einige Kilometer vom Vulkan entfernt. Die wenigen, die zur Zeit von Mitch am Vulkanhang gewohnt und überlebt hatten, gründeten hier das Dorf El Tanque. Deyling sitzt auf einem Stuhl vor ihrem türkisfarbenen Häuschen, das vorstehende Blechdach schützt sie vor Regen. „Ich bin nicht verrückt geworden wie mein Onkel. Doch wenn es regnet, habe ich Angst, dass der Vulkan uns überrollt. Das Wetter spielt immer mehr verrückt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2011)

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