Weshalb Juden Wien lieben - Attraktivität für Zuzug steigt

Israelitische Kultusgemeinde
Israelitische KultusgemeindeClemens Fabry
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Bis Sonntag finden in der 8000 Mitglieder starken Israelitischen Kultusgemeinde Wahlen statt. Nicht nur die Infrastruktur, sondern auch die Organisation der Einheitsgemeinde sei einzigartig in Europa.

Wien. Die Schule besuchen, auch den Gottesdienst, einkaufen gehen, Sport betreiben, sich weiterbilden, alt werden. Möglich ist dies in der Zwi-Peres-Chajes-Schule, in zahlreichen Synagogen, in einigen koscheren Supermärkten im Karmeliterviertel, im Sportclub Hakoah, im Jüdischen Beruflichen Bildungszentrum (JBBZ) und im Sanatorium Maimonides-Zentrum.

Die Infrastruktur für das jüdische Leben in Wien wurde in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive aufgebaut. Die neueste „Errungenschaft“ ist dabei nicht sichtbar: seit September verfügt Wien über einen Eruv – also einen festgelegten Raum, in dem an Sabbat auch ein Kinderwagen geschoben oder andere leichte Tätigkeiten verrichtet werden können, die orthodoxen Juden an diesem Tag normalerweise untersagt sind. Der Eruv erstreckt sich vom ersten bis zum 20. bzw. 9. Gemeindebezirk. Neben Wien verfügen in Europa auch London und Antwerpen über einen Eruv.

Dafür, dass es in Wien eine vergleichsweise kleine Gemeinde gebe – die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) hat knapp 8000 Mitglieder – sei die Infrastruktur „beispiellos“, sagt IKG-Präsident Oskar Deutsch. Das sei auch ein Grund dafür, dass Wien für Juden aus dem (EU-)Ausland immer attraktiver werde. Derzeit haben rund 130 Mitglieder der IKG einen deutschen Pass, noch einmal so viele stammen aus Großbritannien und Frankreich. EU-Bürger können sich in Österreich freilich unkomplizierter niederlassen als jene aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Hier soll die Rot-Weiß-Rot-Card Abhilfe schaffen; damit wird die Niederlassung in Österreich für Fachkräfte erleichtert.

Die Kultusgemeinde will aber beide Gruppen – EU und Nicht-EU – erreichen, denn die jüdische Gemeinde soll auch weiterhin durch Zuzug wachsen. Aber nicht nur: Deutsch will vor allem jene Juden für die Gemeinde gewinnen, die in Österreich geboren wurden, hier leben, aber noch nicht Mitglied sind (Schätzungen zufolge betrifft das bis zu 15.000 Personen). Vorausgesetzt, Deutsch wird wieder zum Präsidenten gewählt. Derzeit finden in der IKG Wahlen statt, der Sonntag ist letzter Wahltag (siehe Artikel rechts unten).

Konflikte nicht öffentlich

Nicht nur die Infrastruktur, sondern auch die Organisation der Einheitsgemeinde sei einzigartig in Europa, so Deutsch. Die Wiener jüdische Gemeinschaft ist ethnisch, sprachlich und liturgisch heterogen, alle werden aber von der Kultusgemeinde vertreten.

Auch wenn es innerhalb der Gemeinde zu Meinungsverschiedenheiten komme, sagt Deutsch, „bin ich stolz, dass diese Konflikte nicht nach außen gehen“. Gemeindemitglieder sind entweder Aschkenasim (mittel- und osteuropäische Juden) oder Sephardim (sie stammen ursprünglich von der iberischen Halbinsel), deren Liturgie sich voneinander unterscheidet. Beide Gruppen betreiben eigene Gebetshäuser und Vereine.

Die sephardische Community in Wien wurde in den 1970er-Jahren durch den Zuzug bucharischer Juden aus Tadschikistan und Usbekistan gegründet. Rund 1500 Mitglieder der IKG sind Bucharen, diese Gruppe wird sich wahrscheinlich auch nach den IKG-Wahlen bemerkbar machen. Zumindest haben Bucharen im Vorfeld der Wahlen eine eigene sephardische Abteilung im Rabbinat gefordert.

Deutsch verweist aber auch auf andere Wahlen: Nächstes Jahr wird in Österreich der Nationalrat neu gewählt, erfahrungsgemäß wird dann der politische Ton schärfer werden. Antisemitismus ist nach wie vor ein großes Problem für die Wiener jüdische Gemeinde, sagt Deutsch. Erst vor zwei Monaten wurde ein Rabbiner auf dem Schwedenplatz in Wien antisemitisch beschimpft, die anwesende Polizei ist offenbar nicht eingeschritten. Nur einen Monat zuvor hatte FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache mit einem Posting auf Facebook provoziert: er „teilte“ eine Karikatur, die deutlich antisemitische Züge enthielt. Eine der dargestellten Figuren stand für die Banken: ein gierig dreinblickender Mann mit großer Nase – und Davidsternen auf den Manschettenknöpfen. Seite 27

Auf einen Blick

Israelitische Kultusgemeinde (IKG). Knapp 8000 Juden sind Mitglied der IKG, die allermeisten leben in Wien. Viele Mitglieder (rund 3500) wurden in Österreich geboren, weitere 1700 in Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, knapp 1000 in Israel. Der Großteil der IKG-Mitglieder – rund 5700 – hat die österreichische Staatsbürgerschaft, israelische und deutsche Staatsangehörige bilden die nächstgrößeren Gruppen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2012)

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