"Ist schon einsam hier": Österreichs älteste Stadt

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Mit einem Durchschnittsalter von 54,6 Jahren hat Eisenerz die älteste Bevölkerung Österreichs. Von Jahr zu Jahr schrumpft die Stadt, vor allem jüngere Einwohner wandern ab. Ein Lokalaugenschein.

Ein junger Mann, höchstens 20, sitzt in seinem getunten VW Jetta auf einem Parkplatz. Abwechselnd richtet er seinen nachdenklichen Blick auf sein Smartphone und in die Ferne, Fahrer- und Beifahrertür sind geöffnet.

An Höflichkeit mangelt es ihm nicht. „Haben Sie sich verfahren, kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragt er. Als er darauf angesprochen wird, dass die nordsteirische Stadt, in der er geboren wurde und aufwuchs, österreichweit die höchste Anzahl an Personen aufweist, die älter sind als 65, und gleichzeitig den niedrigsten Anteil an Kindern und Jugendlichen, vergisst er für einen Augenblick seine gute Kinderstube.

„Deswegen seid ihr da, fallen euch keine anderen Geschichten mehr ein?“, will er wissen. „Wir sind doch wohl nicht der einzige Ort auf der Welt, in der es mehr ältere als jüngere Menschen gibt, oder?“ Journalisten, er legt seine ganze Verachtung in dieses Wort, wüssten auch nicht mehr, worüber sie berichten sollten. „Lassen Sie mich bitte in Ruhe.“

Besonders überraschend ist seine ungehaltene Reaktion nicht. Wer noch in Eisenerz wohnt und regelmäßig die (sozialen) Medien verfolgt, bekommt einiges über seine Gemeinde zu lesen. Zuschreibungen wie Seniorenkaff, Geisterort, Stadt der Alten sind noch die harmloseren. Tatsächlich ist Eisenerz mit einem Durchschnittsalter der Bevölkerung von 54,6 Jahren die „älteste“ Gemeinde Österreichs. Zum Vergleich: Bundesweit liegt das Durchschnittsalter bei 42, in Wien bei 41 Jahren. 37,2 Prozent der Einwohner in Eisenerz sind älter als 65. Der Österreichschnitt liegt bei 18,1 Prozent, jener in Wien sogar bei 17 Prozent. Nur 7,7 Prozent sind 15 oder jünger. Österreichweit sind es 14,4, in Wien 14,3 Prozent.

Eisenerz ist auch eine der am schnellsten schrumpfenden Städte Österreichs. Die Einwohnerzahl ist von 13.000 im Jahr 1961 auf aktuell 4500 zurückgegangen. Allein seit 2003 sind rund 1100 Menschen zwischen 15 und 45 sowie knapp 200 Kinder unter 15 aus Eisenerz weggezogen. Die Abwanderung jüngerer Bewohner wirkt sich nicht nur unmittelbar auf den Anstieg des Durchschnittsalters aus, sondern hat auch einen indirekten Effekt auf die Überalterung der Stadt. Die Rechnung ist einfach: Immer weniger jüngere Männer und Frauen bedeuten auch immer weniger potenzielle Eltern. Gab es beispielsweise 2003 noch 34 Geburten, waren es 2012 nur noch 13.

Ein Bevölkerungsschwund, der auch beim Lokalaugenschein nicht zu übersehen ist. Sogar am späten Nachmittag an einem Wochentag, in der Rush Hour also, ist es auf den Straßen von Eisenerz unwirklich still.

Eisen für immer. Das war nicht immer so. Der Erzberg hat mehr als ein Jahrtausend lang eine ganze Region geprägt. Seit rund 40 Jahren aber zählt der Raum Eisenerz zu einer der vielen Industrieregionen mit Problemen. Der immer unrentabler werdende Abbau führte zu einem Wirtschaftseinbruch. Mit dem eingerichteten Erlebnisbergwerk fährt man ganz gut, auch die europaweit bekannten Motorradrennen („Erzberg-Rodeo“), die heuer Ende Mai/Anfang Juni stattfinden, locken jedes Jahr tausende Besucher an.

Aber der Reihe nach: Der steirische Legendenschatz erzählt von einem in alter Zeit im nahen Leopoldsteiner See gefangenen Wassermann, der als Preis für seine Freilassung entweder den goldenen Ring, das silberne Horn oder den eisernen Hut versprach. Mit der Einschränkung: „Gold währt nur kurz, Silber nicht ewig, Eisen gibt es auf immerdar.“ Die schlauen Menschen wählten den eisernen Hut, und mehr als 1700 Jahre ging der Deal gut.

Langsam gehen aber die Erzvorräte zu Ende, durch den technischen Fortschritt braucht es zudem weniger Arbeiter für den Abbau. Die früher als Stärke empfundene Ausrichtung auf den Bergbau wurde zu einem Hemmschuh für die Entwicklung.


Großer Aufschwung. Der Berg in den Eisenerzer Alpen mit 1466 Metern Höhe – seit den ersten Abbautagen hat er mehrere Dutzend Meter Höhe eingebüßt – ist die größte Sideritlagerstätte der Welt. Abbautätigkeiten sind seit den Römern etwa Anfang 4. Jahrhundert n. Chr. durch Schmelzöfenfunde bekannt. Aus dem Jahr 712 existiert eine weitere Nennung vom Erzabbau, die erste urkundliche Erwähnung ist von 1171. Im 19. Jahrhundert erlebte die Region einen großen Aufschwung unter dem sehr auf die Förderung der steirischen Wirtschaft bedachten Erzherzog Johann. Während der Nazi-Zeit wurde der Erzberg den Linzer Hermann-Göring-Werken, der nachmaligen Voest, zugeordnet. In den 1970er- Jahren begann die Krise: Waren 1963 noch 4200 Menschen im Bergbau beschäftigt, sind es heute noch etwa 200.

Im August 1986 fuhr der letzte Grubenhunt ein, abgebaut wird seitdem aus Kostengründen nur noch am Tag. In den Schächten entstand ein Schaubergwerk, in dem man das unterirdische Labyrinth des Erzberges kennenlernen und einen Einblick in die Arbeitswelt der Knappen einst und heute bekommen kann. 60.000 Besucher locken die als „Abenteuer Erzberg“ vermarkteten Touren jährlich an.

Pro Jahr werden im Übrigen immer noch fast zwei Millionen Tonnen Erz abgebaut. Pläne der Voest im Oktober 1986, auf dem Areal eine Mülldeponie zu errichten, stießen auf Widerstand der Eisenerzer, die Gefahr für ihre Tourismus-Bemühungen sahen. Sie wurde unter Bürgerbeteiligung und Berücksichtigung der Einwände dennoch gebaut und ist seither ohne größere Probleme in Betrieb.

Dass die jüngere Bevölkerung wegen der besseren Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten vermehrt in die Ballungsräume zieht, ist ein Phänomen, das natürlich nicht nur Eisenerz oder die Steiermark betrifft, sondern ganz Österreich. Das geht aus der aktuellen Publikation „Österreichs Städte in Zahlen 2013“ der Statistik Austria und des Städtebunds hervor. Die Bevölkerung in den Landeshauptstädten ist zwischen 2003 und 2013 um 7,4 Prozent gewachsen, der Österreichdurchschnitt lag bei nur plus 4,3 Prozent. Das stärkste Wachstum verzeichneten Eisenstadt (14,1 Prozent), Graz (12,9 Prozent) und Wien (9,3 Prozent). Innerhalb der EU gehört Wien mit 1,74 Millionen Einwohnern somit zu den am stärksten wachsenden Städten.

Von den Umlandgemeinden nahm die Bevölkerung von Gänserndorf bei Wien etwa um 30,1 Prozent zu, die von Kalsdorf bei Graz um 20,4 Prozent, die von Leonding bei Linz um 16,1 Prozent. Gemeinden in ländlichen Gebieten hingegen verzeichneten eine Verringerung, wie etwa Mariazell (minus 11,7 Prozent), Bad Radkersburg (minus 13,9 Prozent) und Eisenerz (minus 24,2 Prozent). Eine weitere Negativ-Rangliste also, die Eisenerz anführt.

Bürgermeisterin Christine Holzweber (SPÖ) nimmt es mit Humor. „Ein Wettbewerb, an dem wir uns nicht beteiligt, den wir aber gewonnen haben“, scherzt die 63-Jährige, die die Geschicke der Stadt seit 2009 leitet. Sie ist in Eisenerz aufgewachsen und kennt die Probleme der Region. Negiert sie auch nicht, redet aber lieber über Dinge, die die Stadt auszeichnen. Betont etwa, dass acht Prozent der österreichischen Sportler, die bei den Olympischen Spielen in Sotschi bei nordischen Bewerben angetreten sind, aus Eisenerz kommen, der Heimatgemeinde der Skispringerin Daniela Iraschko-Stolz und vom nordischen Kombinierer Mario Stecher.


Mario-Stecher-Platz. Besonders auf Letzteren ist man so stolz, dass man einen Platz nach ihm benannt hat. Mario-Stecher-Platz 1 ist auch die Adresse der Gemeindeverwaltung. „Als Schul- und Sportstadt haben wir uns einen Namen gemacht, in diesem Bereich leisten wir Unglaubliches“, sagt Holzweber und verweist unter anderem auf das Realgymnasium Eisenerz, das einen sportlichen und einen musischen Zweig hat. Vor eben jenem schiebt mit schleppendem Gang eine ältere Frau ihr Enkelkind im Kinderwagen zum Spielplatz. Wie viele Seniorinnen in Eisenerz ist sie verwitwet und wohnt in einer der vielen Mietwohnungen, die – für ländliche Gebiete durchaus untypisch – das Ortsbild prägen. Relikte aus vergangenen Jahrzehnten, als den vielen angeworbenen Arbeitern günstige Wohnungen, zumeist Gemeinde- und Genossenschaftswohnungen, zur Verfügung gestellt wurden.

Auch ihr Mann, erzählt die ältere Frau, arbeitete einst am Erzberg. Seit seinem Tod muss sie ihre Wohnung allein unterhalten. „Was mir sehr schwer fällt. So geht es vielen Witwen hier. Dabei wären die Mieten gar nicht so hoch. Aber mit einer Mindestpension ist das Überleben nicht einfach.“ Obwohl es hier „schon sehr einsam und leise“ sein könne, fühle sie sich in Eisenerz aber nicht unwohl. Die Stadt müsse eben lernen, „sich kleiner zu denken“. „Unsere Struktur ist für 13.000 Einwohner ausgelegt. Die Einwohner sind weg, die Struktur muss dennoch verwaltet werden. Wir werden sehen, wie lange das gut geht und wann wir die Abwärtsspirale stoppen können.“ Solange hier junge Menschen nicht bleiben wollten, werde es aber wohl kaum gelingen.

Apropos junge Menschen. Was machen eigentlich die verbliebenen jungen Eisenerzer in ihrer Freizeit? Sie gehen jeden Freitag in das angesagteste Lokal der Stadt – das Erzbergbräu, das vor zwei Jahren eröffnet wurde und durch seine moderne Design-Einrichtung einen einigermaßen urbanen Charme besitzt. Aber wer macht ein Lokal in einem aussterbenden Ort auf? Ein EDV-Experte namens Reinhold Schenkermaier, der nicht mehr nur als EDV-Experte arbeiten und sich ein zweites Standbein aufbauen will. Und zwar mit einer eigenen Brauerei inklusive Wirtshaus. Jeden Freitag versammelt er dort, wie er sagt, „100 Prozent des möglichen Publikums“ aus Eisenerz. Öfter als einen Tag in der Woche würde sich eine Öffnung nicht auszahlen. An den anderen Tagen kümmert er sich um die Brauerei und verkauft sein Bier an Geschäfte in der Region .

„Für mein selbst gemachtes Bier kommen sogar Gruppen aus Leoben hierher“, erzählt der 57-Jährige. Was ihm angesichts des Rufs seiner Heimatstadt schon eine gewisse Genugtuung verschaffe. „Schließlich“, fügt er noch hinzu, „ist es schon eine Weile her, dass jemand für einen Ausgehabend extra nach Eisenerz kam.“

DiePresse

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.03.2014)

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