Laut dem Konzern gingen bei einem Störfall maximal 200 Kilo verloren. Aber: Schon vorher wurden „gewisse Mengen“ eingeleitet.
Schwechat. Wie viel Industrieplastik hat der Chemiekonzern Borealis in den vergangenen Jahren in die Flüsse Schwechat und Donau eingeleitet? Nach den „Presse“-Enthüllungen über den Verlust von Kunststoffgranulat am Produktionsstandort Schwechat informierte das Unternehmen, an dem die OMV mit 36 Prozent beteiligt ist, am Montag erstmals aktiv die Öffentlichkeit. Und man nannte Zahlen. Die stark vereinfachte Botschaft zwischen den Zeilen lautete: Ja, uns sind Fehler passiert. Den öffentlichen Aufschrei halten wir jedoch für überzogen.
Kunststoffvorstand Alfred Stern formulierte das dann so: „Die Meldungen in den Medien waren mit unserem Selbstbild nicht vereinbar.“ Der Kunststoff, der hauptsächlich im Rahmen eines durch Starkregen verursachten Störfalls am 6. Juli 2010 verloren gegangen war, sei unbedenklich oder „lebensmittelecht“, wie Chemiker sagen. Zudem hätte man inzwischen hochgerechnet, dass an jenem Tag zwischen 50 und 200 Kilogramm in die Umwelt gelangten. Eine Menge, die weit unterhalb jener Schwelle liege, ab der man die Behörden informieren müsse. Deshalb könne von Vertuschung keine Rede sein.
Widersprüche in Zeitkette
Die Argumentation ist bemerkenswert. Das Unternehmen hatte nämlich während der Recherchen zur Aufdeckung des Zwischenfalls vor elf Tagen der „Presse“ schriftlich mitgeteilt, dass man nicht mehr nachvollziehen könne, wie viel Material damals verloren gegangen war. Wenn aber die Verlustmenge von 50 bis 200 Kilogramm erst danach errechnet wurde, wie konnte man dann schon 2010 sicher sein, dass damals keine Grenzwerte überschritten wurden? Schlüssige Antworten darauf blieb das Unternehmen am Montag schuldig.
Tatsache ist aber auch, dass sich Borealis seit Ende der 2000er-Jahre darum bemüht, so viel Kunststoffgranulat wie nur möglich aus seinem Abwasser zu filtern. Messungen aus der bis heute unter Verschluss gehaltenen Exklusivstudie von Forschern der Universität Wien ergaben, dass nach dem Einbau einer neuen Abscheideanlage 2010 zwischen 0,12 und 0,66 Kilogramm pro Tag verloren gingen. Allerdings: Wie viel Kunststoff in den Jahren davor durch den Abwasserkanal in die Umwelt gelangte, bleibt unklar. Stern spricht von „gewissen Mengen“. Wie viel genau, das wisse niemand.
Behörden bekommen Studie
Heute allerdings, das betont man bei Borealis, geht der Verlust an Rohkunststoff, aus dem dann die Abnehmer Plastikprodukte wie zum Beispiel Wasserrohre herstellen, gegen null. Zwei Mal täglich kontrolliert deshalb ein Mitarbeiter jene Stelle, an der der Abwasserkanal in die Schwechat mündet.
Bei Recherchen entlang des Ufers und unterhalb der Kanaleinmündung fand „Die Presse“ dennoch Spuren jenes Granulats, von dem Borealis am Standort Schwechat jährlich eine Million Tonnen herstellt. Wie das zusammenpasst?
Bei Borealis verweist man darauf, dass damit noch nicht erwiesen sei, dass das Material auch aus der eigenen Anlage stamme. Und das, obwohl sich im Oberlauf der Schwechat keine Betriebe befinden, die den gleichen Rohstoff herstellen, denn: „Schließlich ist es auch möglich, dass das Material bei einem Kunststoff verarbeitenden Unternehmen verloren ging“, argumentiert Konzernsprecherin Kerstin Meckler.
Allerdings hat der öffentliche Druck auf das Unternehmen inzwischen bewirkt, dass die nach wie vor nicht öffentliche Exklusivstudie von Forschern der Universität Wien demnächst zumindest den zuständigen Behörden zur Verfügung gestellt werden soll. Borealis hat nicht ausgeschlossen, das Papier danach auch völlig freizugeben.
Auf einen Blick
Forscher der Universität Wien haben entdeckt, dass die Donau – laut Hochrechnung – täglich 4,2 Tonnen Plastik ins Schwarze Meer spült. Ein Teil davon ist industrieller Rohkunststoff. Recherchen der „Presse“ führten zum Chemiekonzern Borealis am Standort Schwechat. Das Unternehmen gestand ein, bei einem Zwischenfall am 6. Juli 2010 größere Mengen Kunststoffgranulats ins Abwasser verloren zu haben. Zudem war von Schwachstellen im Kanalsystem und einem Konstruktionsfehler der Abscheideanlage die Rede.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.04.2014)