Migration als „Entwicklungsrisiko“

(c) AP (Jens Meyer)
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Die Frühförderung von Migranten-Kindern in Kindergärten per „Sprachticket“ greift nicht – das belegt nun schon die zweite Studie.

WIEN. Wer die Sprachdefizite von Migrantenkindern ausgleichen will, muss bereits im Kindergartenalter ansetzen – und dabei mehr als 120 Förder-Einheiten pro Kind investieren, wie nun schon die zweite Untersuchung zeigt. Bereits im Juni 2007 belegte eine Studie der Arbeiterkammer den Misserfolg der sogenannten Sprachtickets (Elisabeth Gehrer führte den 80-Euro-Scheck 2005 ein) – nun weist eine Untersuchung der Wiener Sigmund Freud Privatuniversität ebenfalls in diese Richtung.

81 Prozent jener 236 Kinder in Wien, die 2007 ein Sprachticket erhielten, zeigen auch nach den 120 Förderungs-Einheiten „nicht altersentsprechende Ergebnisse“. Im Herbst 2007 verfügten demnach also über elf Prozent der Kinder bei ihrem Schuleintritt nicht über das nötige Sprachniveau.

Noch ein Faktor verschärft die Situation: Die betroffenen Kinder (fast alle mit Migrationshintergrund, nur bei 0,57 Prozent haben beide Elternteile Deutsch als Muttersprache) weisen auch im Bereich der Motorik und in der Wahrnehmung Defizite auf. Ganze 90 Prozent der Testpersonen werden überdies als sozial unterentwickelt eingestuft – suggeriert dies einen Konnex zwischen sprachlichen und anderen Defiziten?

„Es ist entwicklungspsychologischer Historismus, die kindliche Entwicklung auf die sprachliche zu reduzieren – soziale und sprachliche Defizite wirken immer zusammen“ sagt Brigitte Sindelar, Leiterin der Abteilung für Jugend-Psychotherapie an der Sigmund Freud-Universität, die die Untersuchung durchführte. „Somit ist Migration derzeit ein Entwicklungsrisiko und diese Ergebnisse eine sozialpolitische Zeitbombe.“ Sindelars Vorschläge für deren Entschärfung: Eine Evaluation der Testverfahren (sie seien bisher wenig standardisiert), mehr Werteinheiten für die Sprachförderung sowie mehr und besser ausgebildete Pädagogen. „Ich weiß, es ist eine Kostenfrage – aber sicher die Investition mit der höchsten Rendite, die es gibt.“

Zugzwang für die zuständige Stadtbehörde also? Christine Spiess, Kindergarten-Abteilungsleiterin bei der MA 10, demonstriert Gelassenheit: „Diese Ergebnisse bringen nichts Neues, der Veränderungsprozess läuft bereits. Die Untersuchungen im Mai werden eine viel bessere Sache sein als zuvor“.

Was kommt: Schnuppertage

Diesmal solle die Sprachkompetenz der Kinder durch einmonatige Beobachtung ermittelt werden. Um Familien anzuwerben, deren Kinder bisher nicht im Kindergarten waren, sind Schnuppertage geplant, bei denen auch die sprachliche Entwicklung der Kinder erfasst werden soll. Fallen Mängel auf, folgt ein Elterngespräch. „Dass Eltern seit 1. Jänner laut Schulunterrichtsgesetz dafür zuständig sind, dass ihr Kind vor Schuleintritt Deutsch spricht, werden wir dabei sicher betonen.“

Allerdings: Eltern die deutsche Sprache auch im Privatbereich allzu vehement nahezulegen, hält wiederum Brigitte Sindelar für falsch – ihr Argument: „Wir wissen, dass Kinder, die ihre Muttersprache sehr gut beherrschen, auch Fremdsprachen besser erlernen. Deutsch zu erzwingen, ist daher nicht notwendig.“

DATEN. Die wi

Die Studie der Sigmund Freud Privatuniversität brachte unter anderem folgende Ergebnisse:

•13,73 Prozent der Vorschulkinder waren bei der Einschreibung in ihrer Sprachentwicklung defizitär eingestuft.

•In dieser Gruppe ist der Anteil an Kindern mit nicht-deutscher Muttersprache wesentlich höher als in der Gruppe der nicht auffälligen Kinder.

•Die Mehrzahl der Kinder wird auch in ihrer sozialen Entwicklung als nicht altersgemäß eingestuft.

•Am Ende des Kindergartens zeigen 81 Prozent der Kinder mit Sprachticket weiterhin nicht altersentsprechende Ergebnisse.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.02.2008)

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