Wiener Barrieren für Rollstuhlfahrer

(c) Clemens Fabry
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Fährt man im Rollstuhl durch die Stadt, bleiben viele Türen und Zugänge verschlossen. Aber die Situation bessert sich, ein „Paradigmenwechsel“ im Umgang mit Behinderung ist im Gang.

Wien. Sitzt man eine Stufe niedriger, ist die Welt anders. Die Perspektive auf Bäuche statt auf Augenhöhe in Gesichter; Marktstände, Regale oder Bankomaten sieht man immer nur von unten. Die Blicke sind anders. Nicht aufdringlich, starrend. Aber anders. Interessiert, fragend, ein „mein Gott, was ist ihr denn passiert“, meint man darin zu lesen. Was es heißt, sich im Rollstuhl durch Wien zu bewegen, das ließ die Hilfsorganisation Licht für die Welt Journalisten bei einem Workshop ausprobieren.

Es bedeutet zunächst Abhängigkeit, Hilflosigkeit. Völlig auf die Assistentin – in dem Fall auf eine Kollegin – angewiesen zu sein, von jedem Pflasterstein, jeder Unebenheit gebeutelt zu werden, allein vor jeder Stufe oder Schwelle zu scheitern.

Wobei sich die Zahl der Hindernisse in Wien deutlich verringert. „In den vergangenen Jahren ist viel passiert“, sagt Dorothea Brożek, Vorstandsmitglied von Licht für die Welt, Gründerin von Brożek Power Consulting (einem Beratungsunternehmen für Diversität) – und selbst Rollstuhlfahrerin. Das sei nicht von allein gekommen. Nachdem Rollstuhlfahrer in den 1990er-Jahren gegen Barrieren protestierten, indem etwa Busse blockiert wurden, haben die Wiener Linien schnell aufgeholt. Davon profitieren nicht bloß Rollstuhlfahrer – laut Studien sind bis zu 25 Prozent der Bevölkerung in ihrer Mobilität (temporär) eingeschränkt und auf barrierefreie Zugänge angewiesen: nach Unfällen; ältere Leute; oder jeder mit einem Kinderwagen.

Fokus auf Barriere statt Defizit

Aber im Rollstuhl scheitert man immer wieder. Zwei Stufen vor dem Drogeriemarkt, allein unüberwindbar. Ein Moment, schon eilt ein Mann herbei, grüßt, beugt sich über den Rollstuhl, hebt an. Ein junger Fahrradkurier – selbst mit Beinprothese – springt vom Rad, packt an, zu zweit heben die Männer den Rollstuhl über die Stufen.

„Unerwartet“, wie viele helfen, wie unkompliziert und „überraschend normal“ das passiere, heißt es in der Feedback-Runde nach dem Test oft. Aber auch, wie wenig Distanz herrscht, wie ungefragt zugepackt wird, wie sich Passanten hilfsbereit, aber ohne zu fragen über einen beugen, viel näher kommen als gewohnt. „Immer fragen“, rät Dorothea Brożek. Hilfe anbieten, aber warten, ob derjenige sie möchte, sagt sie und warnt vor „gut gemeinter Distanzlosigkeit“.

Sie ortet aber einen „Paradigmenwechsel“, der im Umgang mit Behinderung im Gange ist. Traditionell wurden Behinderungen aus einer medizinischen Sicht bewertet – mit Fokus auf die Defizite. Nun ändert sich der Blick: Es geht um die Interaktion zwischen Menschen mit Behinderung und ihrer Umwelt. „Im traditionellen Modell hieß es: ,Aha, der Rollstuhlfahrer kann nicht in die Straßenbahn, also machen wir einen Sonderfahrtendienst.‘ Im neuen, sozialen Modell kann der Rollstuhlfahrer die Straßenbahn nicht nutzen, weil sie falsch gebaut ist: ,Bauen wir sie um‘“, sagt Brożek. „Die Behinderung findet in der Interaktion statt: Die Barriere ist das Problem, nicht der Mensch.“

Ein Wandel, der sich in der Sprache spiegelt: Statt behindertengerecht heißt es etwa barrierefrei. Brożek rät zur Sensibilität – und möchte Floskeln wie „an den Rollstuhl gefesselt“, „leidet an“, „mit besonderen Bedürfnissen“ nicht mehr hören – genauso wenig wie „Handicap“, kommt der Begriff doch vom Bettler mit der Kappe in der Hand. Doch trotz des Paradigmenwechsels – Diskriminierung gibt es nach wie vor. So kritisiert Brożek etwa, dass es, dem Föderalismus sei Dank, keine einheitlichen Gesetze zum barrierefreien Bauen gibt.

Und was wünscht sie sich in Wien? Mitdenken in der Stadtplanung. Oder, die Perspektive zu wechseln. „Ich will, dass Bürgermeister Häupl einmal im Rollstuhl über die Freyung oder den Spittelberg gefahren wird“, sagt sie. Und hofft, dass zumindest auf der neuen Mariahilfer Straße kein rumpelndes Pflaster verlegt wird.

AUF EINEN BLICK

Barrieren gibt es in Wien für Menschen mit Behinderung noch viele: Vor Geschäften, auf den Straßen – und im persönlichen Umgang. In Wien habe sich die Situation aber zuletzt vor allem im öffentlichen Verkehr klar verbessert, sagt Dorothea Brożek von Brożek Power Consulting. Sie ortet einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Menschen mit Behinderung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2014)

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