Ein Blick ins Innere der Bettlermafia

Betteln aus Not ist in Österreich ein Grundrecht. Doch nach Erkenntnissen des Bundeskriminalamts macht es jeder Zweite gewerbsmäßig oder unter Zwang.
Betteln aus Not ist in Österreich ein Grundrecht. Doch nach Erkenntnissen des Bundeskriminalamts macht es jeder Zweite gewerbsmäßig oder unter Zwang.(c) APA/HELMUT FOHRINGER
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In Wien hat das Bundeskriminalamt ein Jahr lang die Strukturen durchleuchtet. Entdeckt wurde ein System voller Ausbeutung, Folter und Menschenverachtung.

Wien. Die 25 Befragungen des inzwischen 33-jährigen Rumänen gingen selbst den erfahrenen Ermittlern des Bundeskriminalamts unter die Haut. Der Mann, der ihnen während der von Psychologen begleiteten Gespräche gegenüber saß, erzählte ihnen eine Geschichte von solcher Grausamkeit, dass man meinen konnte, sie hätte sich in einem mittelalterlichen Straflager zugetragen. Tatsächlich war es die wahre Geschichte eines Menschen, der durch einen Unfall zum Krüppel wurde, und den Kriminelle mitten in Wien jahrelang zum Betteln zwangen.

Vor drei Wochen verhafteten Beamte in Rumänien und Wien fünf Verdächtige. Auf der Liste des Staatsanwalts stehen die Namen von acht weiteren Beschuldigten. Insgesamt 13 Personen müssen sich bald wegen Ausbeutung zur Bettelei (Höchststrafe: 10 Jahre Haft) vor Gericht verantworten.

Der Fall dürfte nur die Spitze des Eisbergs sein. Seit Juli 2013 durchleuchtet eine Arbeitsgruppe des Bundeskriminalamts die Wiener Bettlerszene. Die Beamten unterscheiden zwischen selbstbestimmtem Betteln auf Grund von Armut (legal), organisiertem Betteln zur Profitmaximierung (Verwaltungsübertretung) sowie der Ausbeutung von Bettlern durch Menschenhändler (eine Straftat). Der 33-jährige Rumäne war Opfer von Mitgliedern einer Gruppe der letztgenannten Kategorie.

Im Rahmen der Grundlagenrecherche fanden die Ermittler heraus, dass der organisierte und der strafrechtlich relevante Teil der Bettler zusammen in Wien bereits den halben „Markt" besetzt haben dürfte. Die betroffenen Personen stammen fast ausschließlich aus den ärmsten Regionen der Europäischen Union, konkret aus den Ländern Slowakei, Bulgarien und Rumänien. Allein 2013 nahm die Polizei in der Hauptstadt die Namen von 1100 Rumänen auf, die hier die Mehrheit stellen. Insgesamt stehen in der Jahresstatistik 430 Anzeigen. In den anderen Bundesländern will man in den nächsten Monaten ein ebenso präzises Lagebild erstellen.

Geschäft mit Massenquartieren

In Wien arbeitet das Bundeskriminalamt eng mit dem Magistrat und den Finanzbehörden zusammen, da die Mehrzahl der entdeckten Missstände nicht das Strafgesetzbuch, sondern andere Bestimmungen verletzten. Durch die gute Vernetzung der Behörden konnten die Strukturen der Organisationen genau dokumentiert werden.

Meistens beginnt es in den Heimatländern, wo die Bosse Mittellose, Behinderte und Arbeitslose zu regelrechten Bewerbungsgesprächen laden. In den betroffenen Regionen spricht sich herum, dass durch gemeinsames Betteln im wohlhabenden Österreich für den Einzelnen pro Monat zwischen 100 und 200 Euro „Einkommen" bleiben. Eine Summe, die in diesen Ländern einiges wert ist. Noch mehr jedoch verdienen die Banden.

Diese betreiben zwischen Bukarest und Wien eine Art Linienverkehr, der die Bettler transportiert. Hier angekommen, werden sie nach festgelegten Dienstplänen an zuvor zugewiesene Standorte gebracht. Die Nacht verbringen sie in Massenquartieren, wo sie 130 Euro pro Monat und Matratze bezahlen.

Aus den Ermittlungen geht auch hervor, welch gutes Geschäft die Vermieter dieser Wohnen machen. Bei Razzien wurden 50 Quadratmeter große Substandardwohnungen mit 40 eingemieteten Bettlern entdeckt. Ein anderes Mal besuchten Polizisten ein Haus, in dem offiziell 47 Personen gemeldet waren. Letztendlich hielten sich dort 220 Personen auf. Im Visier haben die Beamten auch einen Vermieter, der in Wien 70 entsprechende Quartiere betreiben soll.

Bettlerquartier in Wien: 130 Euro kostet hier eine Matratze im Monat. Auf 50 Quadratmetern schlafen 40 Personen.
Bettlerquartier in Wien: 130 Euro kostet hier eine Matratze im Monat. Auf 50 Quadratmetern schlafen 40 Personen.Bundeskriminalamt

„Hier regnet es Geld"

Bei der Arbeit stieß das Bundeskriminalamt auf Organisationen, die nicht nur Bettler in Wien verteilten. In ihrem Schlepptau befanden sich Personen, die, nachdem die Hausierer in einer besuchten Wohnung niemanden antrafen, in das Objekt einbrachen und dieses leer räumten. Nach aktuellen Erkenntnissen soll es zwischen den Banden sogar schon zu Revierstreitigkeiten um die lukrativsten Standorte gekommen sein.

Wie besonders „wertvoll" körperlich schwerst behinderte Personen für die Bosse sein können, zeigt das Beispiel jenes 33-jährigen Rumänen, der nun als Kronzeuge auftreten wird. Bei den Befragungen des Mannes stellte sich heraus, dass dieser im Durchschnitt 300 Euro am Tag einnahm, von denen er alles abgeben musste. In der Vorweihnachtszeit erreichte er Spitzenwerte von 1000 Euro. Wurde das Tagespensum einmal nicht erreicht, setzte es brutale Schläge und Essensentzug. Auf die Frage, warum sich die Banden gerade Österreich als Zielland ausgesucht hätten, diktierte er ins Protokoll: „Hier regnet es Geld."

Lexikon

Betteln und Menschenhandel. Betteln auf der Straße hat nicht automatisch mit Menschenhandel zu tun. Wer aus der Not heraus und selbstbestimmt bettelt, darf das in Österreich laut Verfassungsgerichtshof tun, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Organisiertes Betteln als Geschäftszweig ist – Freiwilligkeit vorausgesetzt – eine Verwaltungsübertretung. Wer jedoch andere zum Betteln zwingt, sie unter Druck setzt oder dabei gar Gewalt anwendet, macht sich strafbar.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17. Mai 2014)

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