Justiz: Reformplan für Maßnahmenvollzug

Archivbild: Justizanstalt Krems-Stein
Archivbild: Justizanstalt Krems-Stein(c) Fabry / Die Presse
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Im Fall des verwahrlosten Insassen in der Justizanstalt Stein wurden drei Beamte suspendiert. Die Zahl der Menschen im Maßnahmenvollzug steigt seit Jahren.

Wien. Es gebe, sagt Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP), „nichts zu beschönigen oder zu vertuschen“. Die durch einen „Falter“-Bericht bekannt gewordene Verwahrlosung eines 74-jährigen Insassen im Maßnahmenvollzug der Justizanstalt Stein (NÖ) sei symptomatisch für die „massiven, auch strukturellen Schwächen“ in den Justizanstalten. Brandstetter will nun die für den Herbst geplante Reform des Maßnahmenvollzugs vorziehen. Ein Überblick über das Problem:

1. Welche Straftäter müssen eigentlich in den Maßnahmenvollzug?

Es betrifft Täter, die aufgrund einer höhergradigen psychischen Erkrankung eine schwere Straftat begangen haben und deren Anlasstat weitere Straftaten mit schweren Folgen befürchten lassen. Derzeit sind 840 Personen im Maßnahmenvollzug in Gefängnissen und Kliniken: 400 gelten als geistig abnorme, aber zurechnungsunfähige Rechtsbrecher (§21/1 Strafgesetzbuch) – das heißt, sie sind nicht rechtlich schuldfähig. Der vernachlässigte 74-Jährige hingegen fällt in die Kategorie „zurechnungsfähig“ (§21/2 StGB) – diese Insassen sitzen meist in Krems-Stein, Wien-Mittersteig oder Graz-Karlau. Bei Zurechnungsunfähigen erfolgt die Einweisung anstatt einer Freiheitsstrafe, bei Zurechnungsfähigen wird die Maßnahme zusätzlich zur Freiheitsstrafe verhängt, wobei der Maßnahmenvollzug auf die Haftzeit angerechnet wird. Die Fortsetzung der Maßnahme wird jedes Jahr geprüft.

2. Warum steigt die Zahl der Personen im Maßnahmenvollzug so stark?

Von 2001 bis 2010 stieg die Zahl der Menschen im Maßnahmenvollzug um 61 Prozent. Bei insgesamt 8899 Häftlingen österreichweit betrifft es rund jeden zehnten Insassen. Eine Studie, die der Kriminalsoziologe Wolfgang Stangl 2012 im Auftrag des Justizministeriums durchführte, weist nach, dass man wegen immer geringerer Delikte im Maßnahmenvollzug landet und dort auch länger bleibt. Gerichtspsychiaterin Adelheid Kastner vermutet, dass einerseits zu leicht eingewiesen und andererseits zu zögerlich entlassen wird – man wolle auf „Nummer sicher“ gehen. Die Gesellschaft, sagt Kastner, „will die Quadratur des Kreises – sie will weniger Menschen im Maßnahmenvollzug, aber nicht ein bisschen weniger Sicherheit“.

3. Wie ist die Verwahrlosung des 74-Jährigen zu erklären?

Der Mann, dessen  verwahrloster Zustand monatelang niemandem aufgefallen sein soll, sitzt seit 2008 in der Justizanstalt Stein. Da er laut Vollzugsdirektionsleiter Peter Prechtl nicht in den Gruppenvollzug integrierbar und seine Aussicht auf Entlassung schlecht war, war der Mann in der Sicherheitsabteilung untergebracht. Laut Vernehmungsprotokoll erhob er im Übrigen keine Anschuldigungen gegen die Justizanstalt, berichtet die „Kronenzeitung“ (Donnerstagsausgabe). „Die Justizwachebeamten und die Ärzte hatten keine Möglichkeit, den langjährigen an meinem rechten Bein angebrachten Verband zu Gesicht zu bekommen“, wird er zitiert. Derzeit wird er in der Sonderkrankenanstalt behandelt.

Regelmäßige medizinische Kontrollen der Insassen gab es in der Justizanstalt nicht – auch mangels Personals: Die Justizanstalt Stein verfügt über zwei Psychiater – bei 800 Insassen, von denen sich 120 im Maßnahmenvollzug befinden und 80 weitere als psychiatrisch auffällig gelten. Ähnlich unterbesetzt sind auch die übrigen Justizanstalten des Landes. Der Anlassfall hätte aber auch außerhalb des Maßnahmenvollzugs vorkommen können, sagt Gerichtspsychiaterin Kastner. Es gebe genug Insassen, die im Gefängnis alt und dement würden. Ähnliche Fälle würden sich zudem in Altersheimen oder in der Familie ereignen.

4. Kann man Häftlinge gegen ihren Willen untersuchen?

Verweigert ein Insasse, der so wie der 74-Jährige als zurechnungsfähig gilt, die psychologische oder medizinische Betreuung, seien der Justizanstalt die Hände gebunden, sagt Prechtl. „Wir können sie nicht zu einer Behandlung zwingen.“ Der 74-Jährige etwa hatte „auf Revers“ unterschrieben, dass er nicht medizinisch behandelt werden möchte. Erst, wenn das Leben des Insassen gefährdet ist, könne man ihn zwangsernähren oder -behandeln. Letzteres ist auch in diesem Fall passiert, allerdings erst, als den Beamten (einer ist für 20 bis 30 Insassen zuständig) Verwesungsgeruch auffiel.

5. Welche Konsequenzen hat der Anlassfall?

Jene drei Beamte, die als Verantwortliche infrage kommen, wurden suspendiert, um, wie es heißt, anhängige strafrechtliche Ermittlungen (Verdacht des Quälens oder Vernachlässigens eines Gefangenen) nicht zu beeinträchtigen. Es sind der Traktkommandant, der Abteilungsleiter und sein Stellvertreter. Der Abteilungsleiter Roman Söllner steht übrigens auf Platz 15 der FPÖ-Liste für die EU-Wahl. Der Justizminister hat ein 14-tägiges Reporting der Vollzugsdirektion ans Ministerium verfügt. In Stein gibt es jetzt engmaschigere Kontrollen – medizinisch, dienstrechtlich und bei der Fachaufsicht. Die Grünen fordern einen U-Ausschuss, die Volksanwaltschaft will verstärkt den Maßnahmenvollzug prüfen. Der 74-Jährige selbst befindet sich auf dem Weg der Besserung.

6. Gibt es Vorschläge zu Änderungen im Maßnahmenvollzug?

Friedrich Forsthuber, Präsident des Straflandesgerichts Wien, will ansetzen, bevor Straftaten passieren. Er plädiert abseits des Strafrechts für eine Reform der Unterbringung in psychiatrischen Anstalten (bei Selbst- oder Fremdgefährdung): Auch hier sollten Personen, die als medikamentös „gut eingestellt“ entlassen werden, zur Nachbetreuung verpflichtet werden können. Außerdem will Forsthuber den Maßnahmevollzug weg von der Justiz ins Gesundheitssystem verlagern. Ähnlich argumentiert Christian Timm von der Vollzugsdirektion: „Der Strafvollzug ist keine Klinik.“ Aus dem Gesundheitsministerium gibt es zur grundsätzlichen Verlagerung des Maßnahmenvollzugs vom Justiz- ins Gesundheitsressort allerdings eine Absage. (mpm/uw/kom/APA)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2014)

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