Der nette Mordverdächtige

GRAZ: MORD BEI DROGENPARTY / TATORT
GRAZ: MORD BEI DROGENPARTY / TATORT(c) APA/ERWIN SCHERIAU (ERWIN SCHERIAU)
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Der 16-Jährige, der bei einer Drogenparty einen Freund erschossen haben soll, war laut Privatgutachtern völlig harmlos. Das Jugendamt glaubte das.

Gudrun Kirchengast, Leiterin der Rechtsabteilung des Grazer Jugendamts, zählt drei Gründe auf, warum sie zu dem Fall nichts sagt: Datenschutz, Amtsgeheimnis und die Tatsache, dass ihre Behörde Vertrauensperson des 16-Jährigen S. ist, seitdem dieser unter dringendem Verdacht steht, einen gleichaltrigen Jugendlichen erschossen zu haben. „Zur Vorgeschichte dieser Causa werden Sie von mir nichts erfahren“, sagt sie. Ob das Jugendamt früher hätte eingreifen sollen? Hätte sich so womöglich eine Bluttat verhindern lassen? „Dazu kann ich nichts sagen.“

Andere in ihrer Behörde reden unter Zusicherung von Anonymität. Bauchgefühl und Hausverstand seien eine Sache, sagen sie. Die gesetzlichen Vorgaben eine andere: „Man muss sich in einem Rechtsstaat damit abfinden, dass sich nicht alles abwenden lässt.“

Ende Juni geschah im gutbürgerlichen Grazer Stadtbezirk Geidorf Schreckliches. Noch leuchten Kriminalisten die Hintergründe aus, Informationen fließen spärlich. Nur so viel gilt als wahrscheinlich: S. feierte im Keller des Hauses seiner Mutter mit einem Freund und einem 14-jährigen Mädchen eine Party. Alkohol floss, Drogen waren im Spiel. Irgendwann geriet die Situation außer Kontrolle. Das Mädchen wurde mehrfach vergewaltigt, dann holte S. ein Gewehr und schoss dem anderen Jugendlichen in den Kopf. Er beichtete die Bluttat seinem 86-jährigen Großvater, der ihm half, die Leiche in Ungarn zu verscharren. Das Mädchen ging zur Polizei, wo man ihren Erzählungen zunächst keinen Glauben schenkte. Erst als sie nicht lockerließ, hielten die Beamten Nachschau. Einige Tage später wurde die Leiche gefunden.

Der alte Mann, von dem Nachbarn erzählen, dass er sich wie ein Vater um seinen Enkel gekümmert habe, wurde zunächst auf freien Fuß gesetzt. Als er aber Selbstmordabsichten äußerte, wurde er in das Grazer Landeskrankenhaus zwangseingewiesen.

S. wartet nun in Untersuchungshaft auf seinen Prozess. Demnächst wird er einem Psychiater vorgeführt, der herausfinden soll, ob der junge Mann für seine Tat voll verantwortlich ist. Oder ob bei ihm eine schwere psychische Störung vorliegt. „Ich gehe davon aus, dass sich die Experten auch mit den Vorgutachten auseinandersetzen werden“, sagt der Grazer Staatsanwalt Hansjörg Bacher.

Als das Jugendamt 2009 zum ersten Mal auf den damals Elfjährigen aufmerksam wurde, weil ihm Gewalttaten vorgeworfen wurden, legte seine Mutter, eine Kinderpädagogin, nämlich zwei Privatgutachten vor, die beweisen sollten, dass ihr Sohn keiner Fliege etwas zuleide tun könnte: „Sowohl die spontane als auch die reaktive Aggressionstendenz ist bei S. signifikant niedrig ausgebildet. Die Hemmung vor aggressiven Handlungen hingegen ist außerordentlich hoch“, heißt es in einem der Befunde. Die Jugendfürsorge gab sich damit zufrieden.

Auslöser für das Einschreiten des Jugendamts waren Beschwerden von Eltern über das Verhalten des Buben. Seine Mutter leitete einen Privatkindergarten in einem Mehrparteienhaus. Die Kinder erzählten zuhause, dass sie von einem älteren Kind drangsaliert würden. Dieser würde sie von einem Baumhaus aus mit Speeren, Steinen und Nägeln beschießen, mit einer Eisenkette fesseln und ihnen drohen, dass er sie umbringen würde. Mitarbeiterinnen des Kindergartens wussten zu berichten, dass eines Nachts ein Meerschweinchen auf grausame Weise umgebracht und ausgeweidet wurde.

Der Verdacht fiel auf S. Die Eltern alarmierten die Aufsichtsbehörden der steirischen Landesregierung und wandten sich an die Öffentlichkeit. Zeitungen berichteten über den „Horrorkindergarten“. Schließlich wurde die Einrichtung auf Druck der Behörden geschlossen. Die Schilderungen der Eltern über die Vorkommnisse, sagt ein damals mit dem Fall betrauter Beamter der Kindergartenabteilung, seien „im Großen und Ganzen“ plausibel gewesen. Aber war es S., der die Kleinkinder peinigte und das Meerschweinchen tötete? Für die Pädagoginnen und Eltern der betroffenen Kinder gab es daran keinen Zweifel. Bewiesen wurde es nie.

„Haltlose Gerüchte“ nennt der Anwalt des mutmaßlichen Todesschützen, Bernhard Lehofer, die Vorwürfe heute. „S. hat weder Kinder drangsaliert noch ein Meerschweinchen umgebracht. Ein Verfahren wegen Tierquälerei wurde eingestellt.“ Lehofer droht mit rechtlichen Schritten, sollten die Vorwürfe weiterhin verbreitet werden.

Der leibliche Vater des Buben schenkte den Schilderungen der Eltern indes Glauben. Er hat seinen Sohn seit der Trennung von der Mutter vor 13Jahren nicht mehr gesehen. Diese beschuldigte ihn damals, das gemeinsame Kind geschlagen zu haben. Der Vater bestritt das, vor Gericht konnten die Vorwürfe weder bestätigt noch widerlegt werden.

Als die Zeitungen über die Vorkommnisse im Kindergarten berichteten, wandte sich der Vater an die Mutter und das Jugendamt. Er wollte erzwingen, dass sein Sohn eine psychologische Therapie bekommt. Die Mutter aber legte ärztliche Bestätigungen und Befunde vor, die nachweisen sollten, dass mit ihrem Sohn alles in Ordnung sei.

Das Gutachtendilemma.
Das ausführlichste Gutachten stammt von einem Wiener Psychologen und gerichtlich beeideten Sachverständigen für „Arbeits- und Luftfahrtpsychologie“. Im Sommer 2009, kurz nach Bekanntwerden der Vorwürfe, erstellte er einen Befund über S., um herauszufinden, ob bei diesem eine „allfällige Störung des Sozialverhaltens“ vorliege. Er attestierte dem Buben „einen vorbildlichen Umgang mit Aggressionen“ sowie ein „empathisches Verhalten gegenüber Mensch und Tier“, die „Ergebnis seiner Erziehung seien“. Auf den beiliegenden Testergebnissen wurde ein falsches Geburtsdatum angegeben, das aus dem Elf- einen 17-Jährigen machte.

Christian Geretsegger, Leiter der Abteilung für forensische Psychiatrie an der Universitätsklinik Salzburg, beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit dem Dilemma der Privatgutachten. „Warum gibt jemand ein solches in Auftrag? Weil er natürlich bestimmen will, was drinsteht.“ Problematisch sei, dass viele Behörden vor Expertenbefunden kapitulieren würden. „Vor Gericht hat man damit kein Leiberl. Aber Mitarbeiter im Jugendamt können ein psychologisches Gutachten nicht einfach ignorieren.“ Nun wartet S. auf seinen Prozess. Wann dieser stattfindet, lässt sich derzeit noch nicht abschätzen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2014)

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