Knotenpunkt der Dealer und Junkies

(c) Die Presse (Harald Hofmeister)
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Am Wiener Karlsplatz treffen nicht nur mehrere U-Bahnlinien und Straßenbahnen zusammen, auch der Kauf und Verkauf von Drogen hat hier ein Zentrum – in dem alles nach klaren Regeln abläuft.

WIEN. Der Karlsplatz ist ein Ort mit zwei Gesichtern. Die meisten, die sich am Morgen in seine unterirdischen Gänge begeben, haben bereits entschieden, in welches sie blicken wollen: In das des hochfrequentierten Verkehrsknotenpunkts oder in jenes, für das der Karlsplatz seinen unfreiwilligen Ruhm erlangt hat: Als Epizentrum der städtischen Drogenszene.

Am Suchtgifthandel sehen die, die lieber in das Gesicht der funktionellen U-Bahnstation blicken, erfolgreich vorbei – so erklärt sich auch, warum die beiden Welten so reibungsfrei koexistieren. Gleichzeitig scheint es ein ungeschriebenes Gesetz der Szene zu sein, Passanten weder anzusprechen noch zu -rempeln – wer das Elend nicht sehen will, muss nicht.

Elementare Tugend: Geduld

Eines ist dennoch klar: Wer hinsieht, wird zum Zeugen. Und merkt, dass etwa das Mädchen im lila Pullover und ihr Begleiter sich nicht vor der Anker-Filiale getroffen haben, um Brot einzukaufen. „Es wird schon wer kommen“, meint der Mann – und spricht damit eine der elementarsten Tugenden an, nach der die „Drogenhölle Karlsplatz“ verlangt: Geduld. Wer kaufen will, muss warten können. Auf den richtigen Dealer, den richtigen Moment, auf alte Freunde. Schließlich ist der Platz nicht nur Handels- sondern auch Sozialzentrum der Szene. Man kennt sich, begrüßt sich mit Handschlag – dabei eignet sich letzterer gut für den Tausch von Ware gegen Geld.

Das weiß auch der Mann im Ledermantel, auf den das Mädchen und ihr Kumpane gewartet haben: „Zaco, da bist du“, ruft er, das Gesicht des Mädchens erhellt sich. Doch Zaco „begrüßt“ zuerst jemand anderen – der Handschlag dauert genau zwei Sekunden zu lange, um als Freundschaftsgeste durchzugehen. Dann ist das Mädchen dran. Sie und der Händler verschwinden zu einem Treppenaufgang. Wahrscheinlich, um dort zu handeln – denn das lässt sich eher bei den Straßenbahnstationen beobachten, als in der überwachten Passage selbst.

Etwa bei der Badner Bahn. Dort lehnt um 10.30 Uhr ein etwa 25-Jähriger und beobachtet akribisch einen anderen, der am Pizzastand Geld wechselt. Die Rolle des Bahnfahrers nimmt man ihm nicht ab – wenig später kommt es zur Übergabe. Per Handschlag.

Beim Aufgang Bösendorferstraße beschwert sich indes ein Grüppchen über das Verhalten zweier Polizisten, die es aus der Passage vertrieben habe. „Die sagen immer, wir sollen rauf gehen – bitte und danke bringen's nicht raus, die Kieberer“ so eine Frau.

Präsent sind „die Kieberer“ in der Karlsplatz-Passage tatsächlich. Zumindest ab und zu – mit kosmetischen Konsequenzen: Wenn sie auftauchen, setzt der Karlsplatz kurz seine harmlose Maske auf: Die blassen Gestalten mit leerem Blick ziehen sich zurück, Öffi-Fahrer dominieren die Szene. Wenige Minuten später ist alles wie gehabt: 10.55 Uhr, ein Jugendlicher und eine Frau, ein Mann und ein Mädchen – der Handel folgt immer einem Schema: Augenkontakt, Nennen der Wunschsubstanz, Übergabe bei einer Treppe.

Polizei ist nicht in Sicht. Auch nicht, wenn es um das Entschärfen einer zwischenmenschlich prekären Situation ginge: Gegen Mittag kommt es vor dem McDonald's zum Schreiduell zwischen zwei Frauen. Sie werden handgreiflich – eine rettet sich in die Damentoilette, die andere will sie zurückziehen. Ihr Begleiter fasst sie jedoch, zieht sie brutal zurück.

Eine Reaktion der Passanten bleibt aus. Ähnlich unbeachtet bleibt eine stillere Tragödie: Ein Jugendlicher sackt in sich zusammen, stützt das blasse Gesicht in die Hände. Seine Freundin kämpft einige Meter weiter damit, wach zu bleiben. Dann kniet sie sich zu ihm. „Du schnorrst immer von mir“, sagt sie, „außerdem hast du versprochen, mich zu beschützen“. Ihr Freund antwortet nicht – bis ihm seine Partnerin zwei Spritzen reicht: „Und ja, die sind sauber“. „Danke“.

Dealer am Fließband

Abseits des Systems „Augenkontakt-Treppenaufgang“ hat die Szene ein weiteres Instrument entdeckt: Die U4. Sie bringt Drogen am Fließband – oder besser: Dealer. Denn während letztere gut sichtbar platziert im Wagon warten, stehen potenzielle Käufer in der Station und steigen zu, wenn sie Händler erspähen. Oder darauf hingewiesen werden, wie der nervöse Mittdreißiger, dem sein braunhaariger Bekannter erst sagen muss, wann sich das Zusteigen lohnt: „Da sitzt ein guter, hupf rein“. Während der Fahrt genügt ein Blick, beim Stadtpark steigen Dealer und Kunde aus und sehen sich noch auf der Treppe mehrmals um, ob ihnen jemand folgt. Nicht sehr unauffällig.

Der braunhaarige Insider wartet indes immer noch am Karlsplatz. Fünf Minuten später steigt auch er in einen Wagon. Dort wartet sein Dealer. Die Übergabe erfolgt, sie nehmen unterschiedliche Sitzplätze ein. Ein Päckchen haben sie jedoch vergessen und schießen es einander quer durch den Wagon zu – kein Fahrgast sieht auf. Zu beschäftigt ist man mit dem Lesen der U-Bahnzeitung. Auch, um das junge Paar von vorhin zu bemerken, das ebenfalls zugestiegen ist. Später in der U6 reicht die Kraft zum Stehen nicht mehr. Auf ihre Bitte hin überlässt man ihnen einen Sitzplatz. Das Mädchen wischt ihrem Freund über die knallblauen Lippen, trocknet das Blut der kleinen Wunden auf seinem Kopf. „Bist du deppert, die sind zu“, meint eine jugendliche Beobachterin – wirklich hinsehen traut sie sich nur über die Spiegelung in der Glasscheibe. In Meidling verlässt das Paar die U6 – wahrscheinlich, um am nächsten Tag wieder zu kommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2009)

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