Gutes Wien, böses Wien: Geld, Beziehungen, Zivilcourage

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In Wien ist ein sterbender Obdachloser im Aufzug gelegen, ohne dass ihm jemand geholfen hat. In der Anonymität der Großstadt, so scheint es, bleibt die Menschlichkeit oft auf der Strecke. Doch wie böse ist Wien wirklich? Ein Überblick.

Kurz war Wien kollektiv betroffen. Ausgerechnet während der Weihnachtsfeiertage, in denen die Nächstenliebe besonders wortreich beschworen wird, lag ein sterbender Mann stundenlang in einem U-Bahn-Aufzug. Passanten betraten den Lift, stiegen über ihn hinweg. Keiner fragte, ob der Obdachlose vielleicht Hilfe benötigte, keiner verständigte die Rettung.

In Wien schaut man also gern weg. Tut man das? Wie schlecht steht es um die Bereitschaft, anderen in Not zu helfen? Wie ignorant ist Wien, wie kriminell, kurz, wie „böse“? Eine Bestandsaufnahme mit Blick auf mehrere Bereiche des Alltags in der Großstadt.

Zivilcourage

Die Zivilcourage einer Gesellschaft oder eine Stadt lässt sich schwer messen oder vergleichen. Eine Umfrage, die Imas 2007 durchgeführt hat, zeigt aber, dass der Einsatz für Menschen in Not in Teilen der Bevölkerung keine Selbstverständlichkeit ist: So gaben damals nur 76 Prozent der Befragten an, dass man für einen verletzten Obdachlosen Hilfe holen sollte. Nur 62 Prozent sagten, sie würden es auch tatsächlich selbst tun. Für eine Frau, die sexuell belästigt wird, würden nur 69 Prozent der Befragten selbst Hilfe holen.

Ob man früher auf mehr Hilfe in Notsituationen zählen konnte, lässt sich statistisch nicht sagen: Die Zahl der Anzeigen wegen Unterlassung der Hilfeleistung bleibt in Wien seit Jahren etwa konstant, sagt ein Polizeisprecher. 2012 wurden 34 Menschen angezeigt, ein Jahr später 31. Diese Zahlen sagen zudem nur bedingt etwas darüber aus, wie ausgeprägt (oder eben nicht) die Zivilcourage der Bevölkerung ist.

Schon in jungen Jahren bekommen jedenfalls viele Wiener den Eindruck, dass ihnen im Notfall nicht unbedingt jemand zur Seite steht. Kinder und Jugendliche, erzählt Ulrike Hais (Kriminalprävention Wien), die an Schulen Vorträge zum Thema Gewalt- und Sexualdeliktsprävention hält, würden ihr oft berichten, „dass niemand herschaut, wenn sie um Hilfe rufen“.

Die Leute, sagt Hais, „gehen traurigerweise häufig einfach weiter oder schauen weg. Gerade in der Masse fühlt sich oft keiner angesprochen.“ Daher rät sie Opfern auch dazu, nicht einfach „Hilfe“ zu rufen, sondern jemanden konkret anzusprechen. Etwa: „Sie mit der blauen Jacke, rufen Sie bitte die Polizei.“ Damit erhöhe sich die Chance ziemlich stark, dass jemand tatsächlich aktiv werde. Wird man Zeuge eines Gewaltdelikts, solle man aber in jedem Fall die Polizei rufen, so Hais.

Sich selbst in den Konflikt einzubringen, davor schrecken viele zurück. Was auch damit zu tun haben könnte, dass man fürchtet, dann selbst als Opfer zu enden. So wie jene Lehrerin, die vor rund zwei Jahren einem Mädchen in der U6 zu Hilfe eilte, das von zwei jungen Männern angepöbelt wurde. Die Frau schaltete sich verbal ein – und wurde von den Männern verprügelt.

Kriminalität

Sicherheit hat auch immer mit dem Auge des Betrachters zu tun. Im internationalen Vergleich zählt Wien zu den sichersten Städten Europas. Innerhalb von Österreich ist die Bundeshauptstadt häufig Spitzenreiter, wenn es um Kriminalität geht. So gab es in Wien im Jahr 2013 etwa 59 Anzeigen wegen Mords und versuchten Mords. In Niederösterreich – nach Wien das Bundesland mit der zweitgrößten Bevölkerung– waren es immerhin nur 29 Anzeigen.

Mit dieser Tendenz geht es in der Statistik weiter: Die Sachbeschädiger sitzen in Wien (auf 100.000 Wiener kommen 1338,25 Anzeigen wegen Sachbeschädigung, gefolgt von Kärnten mit 709). Die Zahl der gefährlichen Drohungen ist in Wien am höchsten (gefolgt von Vorarlberg, wenn man die Häufigkeit pro 100.000 Einwohner rechnet), auch bei den Anzeigen wegen schwerer Körperverletzung liegt Wien vorn. Nur bei der fahrlässigen Tötung im Straßenverkehr beansprucht Wien den vorletzten Platz.

Die Zahl der Verbrechen in Wien ist dabei in vielen Fällen rückläufig. So gab es 2014 nur neun Morde (Stand Mitte Nov. 2014), 1990 waren es noch 50. Leichte Diebstähle (wie von Taschen oder Handys) und die Zahl der Einbruchsdiebstähle waren von 2010 bis 2013 rückläufig. Die Zahlen für 2014 stehen noch aus. Beunruhigend ist die Statistik für Körperverletzung und schwere Körperverletzung, hier gibt es seit Jahren in Wien (aber auch im Rest Österreichs) eine Tendenz nach oben.

Zusammenleben

Bei Trennungen tanzt Wien ziemlich aus der Reihe. 15.958 Scheidungen gab es 2013 in Österreich, davon 4129 in Wien, das sind 25,9 Prozent. Auf 1000 Einwohner kommen in der Bundeshauptstadt 2,4 Scheidungen – Platz eins, gefolgt von Niederösterreich (2), Salzburg und Vorarlberg (je 1,8). Mit 46,4 Prozent ist die Scheidungsrate in Wien am höchsten, in Tirol mit 34,4Prozent am niedrigsten.

Marion Waldenmair, klinische Psychologin und Sachverständige für Familienrecht, führt dieses Phänomen im Wesentlichen auf die „Weite der Großstadt“ und die damit verbundenen Möglichkeiten zurück. „Der Entscheidung, sich scheiden zu lassen, geht ja für gewöhnlich ein langer Nachdenkprozess voraus. In ländlichen und traditionell geprägten Gegenden überlegt man sich sehr genau, ob man sich trennt, da man ja eher mit der Umgebung verhaftet ist und auch danach in einem relativ engen Biotop zurechtkommen muss.“ Vor allem dann, wenn man sehr stark in die Ortsgemeinschaft eingebettet ist und Werte geschaffen hat wie etwa ein gemeinsames Haus. „In einer Stadt wie Wien hingegen hat man nach einer Trennung bessere Möglichkeiten, von vorn zu beginnen und sich neu zu etablieren.“

Hinzu komme eine Art Modellwirkung der Großstadt. „Je höher die Scheidungsrate liegt, desto niedriger ist die Hemmschwelle, sich ebenfalls scheiden zu lassen“, so Waldenmair. „Wenn fast die Hälfte der Leute in meinem Bekanntenkreis geschieden ist, fällt mir dieser Schritt auch leichter. Man kann also von einem Herdenphänomen sprechen.“ Fest stehe, dass die Großstadt grundsätzlich weder beziehungsfreundlich noch -feindlich sei. Waldenmair: „In Wien sind die Beziehungen sicher nicht glücklicher oder unglücklicher als anderswo.“

Nachbarschaft

Die Anonymität der Großstadt wird gern als Grund genannt, wenn ein (meist älterer) Mensch wochen- oder gar jahrelang tot in seiner Wohnung liegt, ehe er gefunden wird. Auch wenn diese Fälle in Erinnerung bleiben – im vergangen August etwa fand ein Gerichtsvollzieher den verwesten Leichnam eines Mannes in einem Gemeindebau in Simmering –, stellen sie doch die absolute Ausnahme der Todesfälle in Wien dar, so ein Polizeisprecher.

Dass man in der Großstadt oft weniger Kontakt zu seinen Nachbarn hat als in kleineren Orten, liegt auf der Hand. Allerdings zeigen etwa Grätzelprojekte (Urban Gardening etc.), dass sehr wohl enger Kontakt mit dem unmittelbaren Wohnumfeld besteht. Und in jüngster Zeit wird häufig versucht, Menschen in der Nachbarschaft mithilfe von elektronischen Plattformen zu vernetzen – etwa mit der Plattform „Frag nebenan“. Über diese Internetseite kann man sich austauschen und einander beim Blumengießen, Hundesitten und anderen Alltagsproblemen helfen. Auch wenn es um die (gemeinsame) Sicherheit geht, ziehen Nachbarn in Wien an einem Strang: Über organisierte Nachbarschaftshilfe wie Pro Nachbar tauschen sich Bewohner über Sicherheit und Sicherheitsrisiken in ihrem Bezirk aus.

Sauberkeit

Für eine Großstadt ist Wien tatsächlich sehr sauber. Die Müllwirtschaft durch die MA48 funktioniert weitgehend, dank der Waste Watcher hat man seit einigen Jahren sogar eine eigene Truppe, die auf die Sauberkeit im Kleinen – von Zigarettenstummeln bis Sperrmüll– achtet. Tatsächlich hat man seit der groß angelegten und gern belächelten Kampagne („Nimm ein Sackerl für dein Gackerl“) in Kombination mit Geldstrafen auch die Hundekotproblematik zu großen Teilen recht gut in den Griff bekommen. Im internationalen Vergleich bescheinigen mehrere Studien der Stadt eine hohe Sauberkeit: Das Statistikportal Statista.com platziert Wien im Ranking der saubersten europäischen Städte auf Rang sechs. Auch im Mercer-Ranking, das jedes Jahr die Lebensqualität in Großstädten weltweit vergleicht und das Wien seit Jahren auf Platz eins listet, steht die Stadt in Sachen Sauberkeit gut da. Bei der Verfügbarkeit von Trinkwasser, Abwasserentsorgung, Müllentsorgung sowie dem Risiko ansteckender Krankheiten erhält Wien bei Mercer Bestnoten. „Lediglich bei der Luftverschmutzung schneidet Wien etwas schlechter ab“, heißt es bei Mercer, „wobei auch diese im Moment kein größeres Problem darstellt.“

Großherzigkeit

In Europa gelten die Schotten als knausrig, in Österreich sind es die Kärntner. Zumindest wenn es um Spenden geht. Nachzulesen im diesjährigen Spendenbericht, wo Kärntner Spender im Schnitt nur 62 Euro ausgeben und damit das Schlusslicht des Rankings bilden. Die Wiener sind mit 71 Euro pro Spender allerdings auch im unteren Drittel der Skala angesiedelt. Am großzügigsten sind die Salzburger, Tiroler und Vorarlberger mit 191 Euro pro Spender, gefolgt von Niederösterreich und dem Burgenland mit 111 Euro.

Trotzdem, das Herz der Wiener kann auch groß sein. Vor allem, wenn es um bestimmte Personengruppen geht – etwa Bettler. 23 Prozent der Wiener spenden auch an Bettler, gefolgt von Oberösterreich und Niederösterreich mit je 20 Prozent. Großzügig erweist sich der Wiener auch beim Trinkgeld. In einer Umfrage aus 2008 gaben 41 Prozent an, in Restaurants und Hotels bis zu zehn Prozent Trinkgeld zu geben, wenn sie zufrieden sind. Österreichweit gesehen liegt der Durchschnitt hier bei nur fünf Prozent.

Internationalität

Die Voraussetzungen sind nicht die besten. Im Klischee haben die Wiener– zu Recht oder zu Unrecht – den Ruf, echte Grantler zu sein. Woher dieser Ruf kommt, kann heutzutage niemand mehr so richtig sagen. Er dürfte wohl aus dem Stereotyp des grantigen Kellners und dem (arroganten) Ruf der Hauptstädter in den Bundesländern entstanden sein.

Bei den Gästen aus dem Ausland scheint sich dieses Vorurteil aber nicht durchgesetzt zu haben. In der „Gästebefragung“, einer Umfrage, die Wien-Tourismus bis 2009 regelmäßig durchführte, landete das Adjektiv „gastfreundlich“ regelmäßig auf Platz zwei, gefolgt von „sympathisch“.

„Das Wiener Flair, von dem man so oft spricht, wird auch von den Menschen hier bestimmt“, sagt Vera Schweder von Wien-Tourismus. Ein weiterer Beleg dafür: Mit mehr als 50 Prozent hätte die Bundeshauptstadt eine hohe Rate an Menschen, die die Stadt ein zweites oder weiteres Mal besuchen würden.

Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Julia Mende, die mit ihrer Agentur Presup Ausländer, die aus beruflichen Gründen nach Wien entsandt werden, betreut. „Wenn sie in Wien auf der Straße nach dem Weg fragen, dann sagen eigentlich alle, wie freundlich und hilfsbereit die Wiener sind. Und wie viele auch gut Englisch sprechen.“ Weitaus schwieriger sei es allerdings, dauerhafte Kontakte zu Wienern und Österreichern zu knüpfen. „Die internationale Community bleibt in Wien daher eher unter sich“, erklärt Mende.

Nachholbedarf bei Gästen aus dem Ausland scheinen übrigens auch die Wiener Taxifahrer zu haben. Bei einem Test, den der deutsche Autofahrerklub ADAC 2011 europaweit durchführte, lag Wien am unteren Ende. Ein Kritikpunkt: Bei zehn Testfahrten konnten nur vier der Fahrer Englisch sprechen.

Multikulturalität

Es ist keine gute Zeit für Zuwanderer und Migranten in Österreich, besonders wenn sie Muslime sind. Die islamfeindliche Stimmung in Österreich hat nicht zuletzt aufgrund des IS-Terrors zugenommen, häufig haben Muslime in den vergangenen Wochen von Übergriffen im Alltag (Kopftuch herunterreißen etc.) berichtet – nicht nur in Wien, sondern auch in den Bundesländern. Freilich, Probleme gab es schon davor. Rund 731 rassistische Vorfälle (österreichweit) wurden dem Anti-Rassismus-Verein Zara 2013 gemeldet. Besonders in der Kritik standen Polizei und Justiz, deren Verhalten sich seit 15 Jahren nicht geändert habe, heißt es im Bericht. Noch immer sei dort Rassismus weit verbreitet.

Wien nimmt dabei keine Sonderstellung ein. Zwar wurde in dem Report die Hälfte der Vorfälle in Wien gemeldet (die andere Hälfte kam aus den Bundesländern), dennoch sei Wien laut Zara-Geschäftsführerin Claudia Schäfer nicht rassistischer als ein anderes Bundesland. „Wir sind in Wien bekannter als anderswo, daher werden uns hier mehr Fälle gemeldet“, erklärt Schäfer die Zahlen. Weiters sei in Wien die Sensibilität für Rassismus höher.

Kinderfreundlichkeit

Was die Rahmenbedingungen angeht, darf sich Wien als kinderfreundliche Stadt bezeichnen: Die Zahl der Betreuungsplätze in Krippen und Kindergärten ist deutlich höher als im Österreichschnitt, seit der Einführung des Gratiskindergartens im Jahr 2005 ist der Kindergartenbesuch auch für alle leistbar.

700 Millionen Euro investiert die Stadt heuer wieder in Ausbau und Erhalt der bestehenden Einrichtungen. Auch was das Freizeitangebot betrifft, können Familien in Wien von Ferienspiel über Museen bis Parks und Spielplätze nicht klagen. Mit Kinderwagen kommt man heute in Wien weitgehend gut voran: Jede U-Bahn-Station ist mit einem Lift ausgestattet – eine Situation, von der andere Städte (z.B. Berlin) weit entfernt sind.

Freilich sagt all das noch nichts über das Klima gegenüber Kindern in der Bundeshauptstadt aus. In der Gastronomie sind Familien häufig nicht gern gesehen. Eltern haben auch oft den Eindruck, mit Kindern im öffentlichen Raum als störend wahrgenommen zu werden. Möglich, dass sich das in den nächsten Jahren bessert. Schlicht darum, weil die Kinder und Jugendlichen in Wien mehr werden: In den nächsten zehn Jahren werden zusätzlich 16.000 Kinder von null bis sechs Jahren in der Stadt leben. Auch die Zahl der schulpflichtigen Kinder steigt bis 2025 von derzeit 145.000 auf 170.000.


»In Wien sind Beziehungen sicher nicht glücklicher oder unglücklicher als anderswo. Nur fällt einem hier bei einer unglücklichen Beziehung die Trennung bzw. Scheidung leichter.«

Marion Waldenmair

Klinische Psychologin

Vorfall

Keine Hilfe erhalten. Ein Obdachloser ist am 26. Dezember 2014 in einem Aufzug der Wiener U-Bahn-Station Volkstheater zusammengebrochen und später verstorben. Fünf Stunden lang lag der 58-jährige Obdachlose in der Kabine, ohne dass einer der Passanten, die den Aufzug nutzten, ihm half, den Notruf betätigte oder die Rettung verständigte. Erst um sieben Uhr schlug ein Reinigungsmann Alarm. Zwei Mitarbeiter der Wiener Linien, die ihren nächtlichen Kontrollgang ausfallen ließen, wurden daraufhin entlassen. Der Fall hat die Diskussion um fehlende Zivilcourage in Wien erneut aufleben lassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.01.2015)

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