Mit viel Adrenalin ins Krankenhaus

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THEMENBILD: WETTER/LAWINE/LAWINENWARNTAFELAPA/BARBARA GINDL
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360 Grad Österreich: 21 Menschen kamen heuer bereits unter Lawinen ums Leben. Wie weit geht die Eigenverantwortung im alpinen Raum?

Serafin Siegele hat in seinen 24 Jahren als Pistenchef in Ischgl schon viel gesehen. Gebrochene Beine, seltsam wegstehende Unterarme, blutende Kopfverletzungen, ausgerenkte Schultern, abgedrehte Knie. Tausende Unfälle waren es über die Jahre, und Siegele hat sie alle detailliert erfasst: Welches Wetter war zum Zeitpunkt des Unfalls, sonnig oder wolkig? Welche Pistenverhältnisse? Welche Ausrüstung? Welche Nationalität? „Ich konnte bei keinem Faktor eine statistische Häufung feststellen“, erzählt er. „Man muss es halt sagen: Manchmal sind die Leute einfach dumm.“

Man sieht es, wenn man auf Skiern unterwegs ist. Die einen bleiben mitten auf der Piste stehen, die anderen fahren los, ohne zu schauen, ob ein Skifahrer von oben kommt, manche rasen mit schwerer Rückenlage an einem vorbei, die zeigt, dass der Mensch hier nur Passagier der Skier ist, einige kurven derart verträumt und unkontrolliert von Seite zu Seite, dass ein Zusammenstoß nur eine Frage der Zeit ist.

Dafür sind die Unfallzahlen in Ischgl überraschend gering. Das Skigebiet gehört zu den zehn größten in Europa. An besonders starken Tagen sind hier 21.000 Menschen unterwegs, im Schnitt sind es 14.000. „Manchmal haben wir vier, fünf Unfälle am Tag“, erklärt Siegele, „manchmal 20, 25.“ Am Ende der 156-tägigen Saison summiert es sich auf 1400 Unfälle bei etwa 2,2 Millionen Skifahrern.

So gering die Unfallzahlen in Relation zu den Skiläufern auf den Pisten sind, so dramatisch sind sie im freien Gelände. Bis Ende Februar kamen in dieser Wintersaison bereits 21Menschen unter Lawinen ums Leben. Das sind mehr als doppelt so viele wie im Vergleichszeitraum des Vorjahres. 91 Mal mussten Österreichs Bergretter bisher ausrücken, um Menschen aus den Schneemassen zu holen.

„Die Menschen suchen das Risiko“, sagt Werner Senn, Leiter der Flugpolizei im Innenministerium und früher Profiskirennläufer. „Der Nervenkitzel gehört zum Berg- und Skisport.“ Wenn man nach Hause komme, dann wolle man seinen Freunden etwas erzählen können. „Und dafür riskiert man eben etwas.“


Anfänger im Funpark. Hannes Parth, Vorstand der Silvrettaseilbahn AG in Ischgl, erlebt das jährlich. Seit einiger Zeit bietet man einen Snow- und Funpark für Snowboarder und Free-Skier mit jeder Menge Rails, Half-, Quarterpipes (schanzenartigen Konstruktionen) und einen großen Airbag, damit Anfänger Sprünge üben können. „Da fahren Leute hinein, die das noch nie gemacht haben. Einfach, weil es halt lustig ist.“ Und dann nehmen sie beispielsweise eine Schanze mit so viel Schwung, dass sie über den Airbag hinausfliegen und mit voller Wucht auf der harten Piste landen. Dann fliegt schon wieder der Hubschrauber, der permanent in Ischgl stationiert ist.

Muss man an der Einfahrt des Funparks einen Warnhinweis aufstellen, oder kann man auf die Vernunft und Eigenverantwortung der Menschen vertrauen? Muss man den Zugang ins freie Gelände derart versperren, dass kein Tourengeher mehr in einen lawinengefährdeten Hang kommt? Bei der Bergrettung in Tirol klagt man über das mangelnde Verantwortungsbewusstsein, seit Tourengehen zu einem Trendsport geworden ist und „Modepuppen auf den Berg gehen, bei denen sogar der Lippenstift zum Anorak“ passt, wie Peter Veider, Geschäftsführer der Tiroler Bergrettung, einmal zur „Presse“ meinte.

Früher waren Skitouren ein Minderheitenprogramm. Wer auf eine Tour ging, kannte sich aus. Das hat sich geändert, seit es zum Massenphänomen geworden ist. „Das Schneeprofil zu verstehen ist eine Wissenschaft“, meint ein Bergführer. „Aber die Leute haben ja nicht einmal die geringste Ahnung von ganz banalen Dingen.“ Etwa, dass auf Nordhängen mit mehr als 40 Grad Neigung sogar bei Warnstufe eins Lawinengefahr herrscht. Oder dass man beispielsweise jetzt, wenn der Winter schon langsam zu Ende geht, besser Süd- oder Südosthänge am Nachmittag meidet (wegen der Sonneneinstrahlung).

Wer einmal unter der Lawine ist, hat schon verloren. Nach 15 Minuten leben zwar noch 92 Prozent, ab der 16. Minute sinkt die Überlebensrate aber dramatisch. 65 Prozent der Menschen, die von einer Lawine verschüttet wurden, sind nach 25 Minuten tot. Wenn nicht andere Skifahrer sofort helfen, hat man nur mit viel Glück eine Überlebenschance, weil die Bergrettung selten so schnell am Unfallort ist.


Helmpflicht oder nicht? Wenn solche Unfälle in der Nähe eines Skigebiets passieren, sind die Folge oft teure Klagen. Eine zweischneidige Sache für Andreas Ermacora. Er ist einerseits Anwalt und hat schon Skifahrer gegen Skigebiete vertreten. Andererseits ist er Präsident des Alpenvereins und sorgt sich in dieser Funktion um die persönliche Freiheit im alpinen Gelände. Als der Oberste Gerichtshof urteilte, dass ein sportlich ambitionierter Rennradfahrer einen Helm tragen muss, sah er diese Entscheidung sehr kritisch. „Skigebiete können nicht nachlässig sein, wenn es um Sicherungsmaßnahmen geht. Aber man muss auch Eigenverantwortung voraussetzen können. Es lässt sich nicht alles regulieren.“

Auch keine Pflicht, einen Helm zu tragen, der ohnehin oft nur ein falsches Gefühl von Sicherheit gibt. „Wenn heute ein Skifahrer oder Snowboarder bei 50, 60 km/h stürzt und binnen kurzer Zeit abgebremst wird, hilft ein Helm relativ wenig“, erklärt Leopold Saltuari, Leiter der Neurologie im Krankenhaus Hochzirl. „Solche Unfälle führen zu einem schweren Schädel-Hirn-Trauma.“ Ein Schädelbruch, wie es ihn früher ohne Helm gegeben habe, sei in manchen dieser Fälle sogar besser gewesen, weil sich der Hirndruck regulieren konnte. „Das heißt nicht, dass man keinen Helm tragen soll“, sagt Saltuari. „Aber man muss sich bewusst sein, dass er nicht unverwundbar macht.“

Ähnliches gilt für die Protektoren, die immer mehr in Mode kommen. Sie schützen zwar den Rücken, viele Modelle lassen aber die Halswirbelsäule ungeschützt. Und hier entstehen bei einem Bruch Querschnittlähmungen.

Fast 40 Prozent der Verletzungen beim Skifahren betreffen übrigens das Knie, am zweithäufigsten trifft es die Schulter. In Schruns in Vorarlberg hat sich der Arzt Christian Schenk in seiner Privatklinik nur auf die Behandlung von Knieverletzungen spezialisiert. Die Skifahrer haben ihn im Laufe der Jahre zu einem vermögenden Mann gemacht. Mittlerweile hat er zwei Hubschrauber, mit denen er Patienten im Winter in seine Klinik fliegt.

Fakten

50.000
Skiunfälle werden von Experten in dieser Wintersaison in Österreich erwartet.

21
Menschen kamen bis Ende Februar bei Lawinenabgängen in Österreich ums Leben. In der Saison davor waren es lediglich neun gewesen.

Fast 40
Prozent der Skiverletzungen betreffen das Knie. Am zweithäufigsten kommt es zu Schulterverletzungen. Corbis

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.03.2015)

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