Hilfe nach Wegweisung: „Es geht um Stunden“

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Bei jedem zweiten Fall von Wegweisung brauchte der Täter sofort Hilfe, sagt der Bewährungshilfeverein Neustart. Der Vorschlag von Innenministerin Mikl-Leiter für eine verpflichtende Rechtsberatung greife zu kurz.

Wien. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) hat einen Plan. Nach der Amokfahrt eines 26-Jährigen am Samstag in Graz (siehe oben) will sie künftig eine verpflichtende Rechtsberatung für weggewiesene Gewalttäter – der Amokfahrer wurde Ende Mai von seiner Familie weggewiesen.

Konkret soll die Polizei mit dem Betroffenen ein Gespräch führen und aufklären, was er nun tun dürfe und was nicht. Das solle, heißt es aus dem Innenministerium, präventiv wirken.

Solche Gespräche gibt es bereits seit 2011 – auf freiwilliger Basis. 500 Polizeibeamte wurden extra dafür geschult. In der Regel finde so ein Gespräch ein bis drei Tage nach der Verhängung des Betretungsverbots statt, „wenn eine gewisse Cool-down-Phase bereits eingetreten ist“, so Mikl-Leitner.

Organisationen, die mit weggewiesenen und straffälligen Männern arbeiten, geht der Vorschlag nicht weit genug. „Eine bloße Rechtsberatung reicht nicht aus“, sagt Andreas Zembaty vom Bewährungshilfeverein Neustart. „Man muss die Täter nach der Tat sofort aufsuchen. Es geht um Stunden, nicht um Tage“, sagt er. Die Betroffenen gehören mit der Tat konfrontiert, man müsse mit der Polizei den Laptop holen, eine Unterkunft für die nächsten Tage suchen. „Sie brauchen jemanden, der mit ihnen redet, auch weil die Täter dann oft Schuldgefühle haben. Und wenn man diese nicht bearbeitet, kehren sich die Schuldgefühle ganz oft in Hass auf die Opfer um.“

Rund 7500 Fälle von Wegweisungen gibt es jedes Jahr in Österreich. Zembaty glaubt, dass rund die Hälfte sofort Hilfe benötigen würde – über einen Zeitraum von mehreren Monaten. Immerhin könnten Wut und Hass jederzeit wieder auflodern. Etwa wenn der Anwalt anruft und über die Scheidung sprechen will.

Die Hälfte braucht Hilfe

Ein entsprechendes Konzept von Neustart liegt bereits seit 2013 im Innenministerium, wurde aber aus Ressourcenmangel nicht umgesetzt. Zembaty hofft, dass es nun wieder ein Thema wird. Innenministerin Mikl-Leitner will jedenfalls in einer Expertenrunde aus dem Innen-, dem Frauen-, dem Justiz-, dem Sozial- und dem Familienministerium die psychologische Betreuung von Gewalttätern klären.

Denn auch die Wiener Frauenhäuser halten die Rechtsberatung für zu kurz gegriffen. „Die Diskussion, die gerade geführt wird, ist absolut verharmlosend. Ein einmaliger oder zweimaliger Termin kann doch noch kein Verhalten ändern“, sagt Geschäftsführerin Andrea Brem. Sie versteht auch nicht, warum der Mann in Graz nach der Wegweisung Ende Mai nicht sofort in U-Haft genommen worden sei. Das wäre rechtlich möglich gewesen. Generell ortet sie den Trend, Gewalt gegen Frauen wieder mehr zu bagatellisieren. Warum das so ist, kann sie nicht erklären. „Dabei waren wir auf einem guten Weg.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2015)

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