Zivilgesellschaft: Was bleibt von der "Generation Hauptbahnhof"?

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Die Helfer von Traiskirchen und die lokalen Initiativen waren erst Vorboten: wie eine Politik in Schockstarre Massen an Flüchtlingshelfern an Grenzen oder Bahnhöfen aktiviert hat. Was bleibt von der "Generation Hauptbahnhof"?

Mehr als 10.000 Flüchtlinge an einem Tag allein auf dem Westbahnhof – und hunderte Freiwillige, die eilig brachten, was sie eben daheim oder schnell gekauft hatten: Obst, Gewand, Spielzeug, Medikamente. Ein zeithistorischer Tag, diese Bilder würden lang bleiben – dieser Eindruck festigte sich am 5. September 2015 auf dem Bahnhof. Es war der Tag, nachdem Deutschland und Österreich ihre Grenzen für Flüchtlinge, die in Ungarn festgesessen waren, geöffnet hatten. Der Tag der viel zitierten „überwältigenden Hilfsbereitschaft“ – sie sollte anhalten. Aber es war kein überraschendes Aufwachen der Gesellschaft. Über Monate hatte sich eine neue Art der Hilfsbereitschaft etabliert. Über soziale Onlinenetze organisiert, fanden sich in Städten oder in noch so kleinen Orten Leute, die Flüchtlinge unterstützen: Deutsch lernen, Gewand vorbeibringen, bei Behördenwegen helfen, vielleicht sogar im eigenen Haus jemandem ein Zimmer bereitstellen – kurz, aktiv werden statt wegschauen oder Geld überweisen.


2015 hilft man individueller. Im Sommer, als die unwürdigen Zustände in Traiskirchen das politische Versagen zur Schau stellten, wuchs bei vielen die Wut – und das Gefühl, nicht mehr nur zuschauen zu können. Täglich wurden Autoladungen an akut Benötigtem, Windeln, Nahrung, Hygieneartikeln, zum Erstaufnahmezentrum gebracht. An den Zäunen des Flüchtlingslagers entstanden Beziehungen, die Art des Helfens veränderte sich in dieser Flüchtlingskrise: Es ist unmittelbarer, individueller, persönlicher. Heuer ging es auch darum, der überwältigenden Flüchtlingsbewegung Gesichter zu geben, die Geschichten der Menschen im Internet mitzuteilen. Ob in Wien, Traiskirchen, Budapest oder Röszke. Eine neue Bewegung der Hilfsbereitschaft und der aktivierten Zivilgesellschaft, die im Spätsommer richtig in Fahrt kam: Da waren die 71 Toten im Kühl-Lkw nahe Parndorf, das Bild des toten dreijährigen Alan Kurdi, das Entsetzen, die Wut und die sozialen Medien als Beschleuniger. Was wird wo gebraucht? Wo kommen gerade Flüchtlinge an? Gespickt mit Bildern oder Berichten von Bekannten oder Unternehmen, die helfen – und so motivieren, es gleichzutun.

Exemplarisch für die neue Art der Hilfe steht die Bewegung Train of Hope vom Hauptbahnhof: spontan entstanden, als irgendwelche Leute – viele, die zuvor nie mit Flüchtlingen zu tun hatten – kamen, als sie via Facebook und Twitter erfahren hatten, in welchem Zustand Flüchtlinge ankommen und dass es keine Versorgung gebe. Während anderswo, auf dem Westbahnhof etwa die Caritas, professionelle Organisationen die Koordination (auch der Freiwilligen) übernahmen, blieb der Hauptbahnhof über Monate in der Hand der jungen Bewegung, es wuchs eine Struktur mit Essens- und Kleiderausgabe, Lazarett, Kinderbetreuung und Dolmetschern. Online wurden Dienste organisiert, in Summe waren es hunderttausend Arbeitsstunden, die geleistet wurden. Sobald via Internet publik wurde, woran es mangelt, war es binnen einer halben Stunde da.

Anrainer haben Flüchtlinge bei sich duschen lassen, Spender alles von Nahrung bis Kinderwägen vorbeigebracht. Dass namhafte Firmen (nicht nur dort) unbürokratisch helfen oder Prominente mit ihrem Engagement werben, gibt der Sache zusätzlich Schwung. Und sorgt für Kritik. Die Helfer als Selbstdarsteller, die sich zu gern im Internet mit ihren guten Taten zeigen. Unternehmen, die es für ihr Image nutzen, dass Flüchtlingshilfe in gewissen Kreisen gerade en vogue ist. In einer jungen, urbanen, gebildeten Schicht, einem studentischen Milieu, das keine Mehrheit ist. Und das, wenn sich die Bilder abgenutzt haben, wenn mehr Arbeit nötig sei, als einem Kind ein Spielzeug zuzustecken und dafür ein Lachen zu kassieren, schon dem nächsten Trend nachrennt.

Die „Klatscher vom Bahnhof“, die „Willkommen-Schreier“ wurden mitunter zum Feindbild, zum Schimpfwort für jene, denen man Naivität in der Flüchtlingsfrage zusprach und denen man vorwarf, den Sogeffekt dieser Kultur nicht zu bedenken oder auch IS-Anhänger mit „Refugees Welcome“ empfangen zu haben.


Und sie ist doch nicht gekippt. Aber aller Widersprüche zum Trotz – ohne die Freiwilligen wäre es diesen Herbst nicht gegangen, da sind Politik und Hilfsorganisationen sich einig. Angesichts der Dynamik spricht man von einer „Generation Hauptbahnhof“, einer Politisierung durch die Flüchtlingskrise. Die Generation Bahnhof bildet wohl keine Mehrheit, entscheidet keine Wahlen, das zeigen Wien, Oberösterreich oder Sonntagsumfragen.

Dass man Flüchtlingshelfern Unrecht tut, wenn man sie auf ein junges, eher linkes Milieu reduziert, zeigen die diversen Flüchtlingsherbergen. Da trifft man Frauen aus den Pfarren, Pensionisten, die Deutsch lehren, Gutsituierte, die bei Anschaffungen aushelfen, Migranten, die dolmetschen, genauso wie Studenten oder die grünaffinen Bewohner der inneren Bezirke. Auch dass die Stimmung bei den Helfern schon noch kippen würde, hat sich nicht bewahrheitet. Nicht nach den Wahlen, nicht als vermeintliche Flüchtlinge als IS-Anhänger verhaftet wurden, nicht als Probleme wie Schlägereien in Massenquartieren publik wurden.

Die Akuthilfe ist weniger geworden, auch hört man aus Notquartieren, es sei schwieriger geworden, Dienste zu besetzen. Aber die Helfer kommen noch immer, bringen noch immer säckeweise Kleider, Essen oder Spielzeug, anderswo haben sich längerfristige Patenschaften ergeben. Wieder andere sondieren nun, wie sie weitertun, die Helfer von Train of Hope etwa überlegen, wie sie Helfer, die nur auf einen neuen Einsatz warten würden, sinnvoll einsetzen. Ein Ende der Hilfsbewegung aus 2015 ist noch nicht in Sicht.

Die Hotspots

Im Sommer hat sich die Akuthilfe der Freiwilligen auf Traiskirchen konzentriert. Viele sind auch privat nach Ungarn oder Slowenien gereist, um mit dem Nötigsten zu helfen.
Ab September
wurden die Bahnhöfe und Grenzübergänge zu den Hotspots: der West- und Hauptbahnhof in Wien oder die Grenzübergänge Nickelsdorf und Spielfeld.
Auch in Notquartieren,
vom Ferry-Dusika-Stadion bis zum Kurier-Haus, arbeiten vorwiegend Freiwillige.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2015)

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