71 Tote im Lkw: Hasans letzte Stunden

Nahed Alaskar und ihre Kinder
Nahed Alaskar und ihre Kinder(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Vor einem Jahr wurden 71 Flüchtlinge in einem Kühl-Lkw auf der A4 gefunden. Das veränderte Europa – und Nahed Alaskars Leben. Ihr Mann war einer der Toten.

Wiener Neustadt. Auf den Tag genau ein Jahr ist es her, dass Nahed Alaskar ihren persönlichen Albtraum erlebt hat, der sie seitdem jeden Tag und jede Nacht heimsucht.
Heute vor einem Jahr, am 27. August 2015, wurde ihr Mann Hasan al-Damen tot aufgefunden – gemeinsam mit 70 anderen Flüchtlingen in einem Kühllaster an der A4 bei Parndorf im Burgenland. Die 31-jährige Apothekerin Nahed befand sich mit ihren beiden Kindern zu Hause nahe Damaskus in Syrien und wartete seit drei Tagen sehnsüchtig auf den Anruf ihres Mannes. Der damals 34-Jährige, der an der Universität Arabistik lehrte, war sonst stets zuverlässig und pünktlich.
Zuletzt hat Nahed, die jetzt mit der sechsjährigen Tala und dem zehnjährigen Zaid als alleinerziehende Mutter in Wr. Neustadt lebt, ihren Mann am 24. August gesprochen. Zu diesem Zeitpunkt war Hasan bereits in Serbien – und hat die gefährliche Überfahrt von der Türkei nach Samos geschafft. Von dort ging es weiter über Athen und Mazedonien nach Belgrad.

Sterben kurz vor dem Ziel

Hasan war in Syrien als Kritiker des syrischen Staatspräsidenten, Bashar al-Assad, bekannt. Als er einen Einberufungsbefehl zum Militär bekam, wusste er, dass er das wohl kaum überleben würde.
Nun war er fast in Sicherheit – nur das letzte Stück des Weges war noch zu bewältigen. Wenige Stunden vor dem Telefonat hatte Hasan einem hageren Mann, der sich Afghani nannte, 1600 Euro bezahlt. Dafür sollte er ihn und seine Freunde, mit denen er sich von Syrien aus auf den Weg gemacht hatte, über Ungarn und Österreich nach Deutschland bringen.
Während Hasan mit seiner Frau telefoniert, wartet er mit 70 anderen in einem Wald an der serbisch-ungarischen Grenze darauf, abgeholt zu werden. Zwei Tage lang verharren die Männer, Frauen und Kinder hungrig und verängstigt im Wald. Am 26. August kommt um vier Uhr morgens ein Kühllaster, die Gruppe steigt ein. Gegen fünf Uhr fährt der Lkw in Richtung Norden los. Von der Kamera eines ungarischen Mautsystems wird der Lkw um 6.03 h bei Kecskemét erfasst, zwei Stunden später bei Budapest – um 9.15 h passiert er die österreichische Grenze bei Nickelsdorf. 20 Minuten später stellen die Schlepper den Lastwagen auf dem Pannenstreifen der A4 bei Parndorf im Burgenland ab und flüchten. Einen Tag später, am 27. August um etwa elf Uhr, öffnen Polizisten den Laderaum – und finden 71 tote Menschen. Sie waren erstickt, der Laster konnte von innen nicht geöffnet werden.
Dieser Moment ist eine Zäsur in der Geschichte Europas und kann als Beginn der größten Einwanderungswelle seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet werden. Die Flüchtlingstragödie auf der A4 löste Mitgefühl in ganz Europa aus, in etlichen Ländern fanden Gedenkfeiern statt. Und sie war mit ein Grund, warum man Hunderttausende Flüchtlinge in Zügen bis nach Deutschland passieren ließ.

Das Leben danach

Bereits am selben Tag am Abend bekommt Nahed einen Anruf von Freunden, Hasan könnte unter den Opfern sein. „Ich telefonierte wochenlang herum, aber erst nach 20 Tagen wurde mir sein Tod bestätigt.“
Nahed will ihren Mann bestatten lassen, aber die Leiche nach Syrien zu überstellen, kann sie sich nicht leisten. Außerdem hat mittlerweile der IS ihren Wohnort belagert. Also macht sie sich Anfang November mit ihren beiden Kindern nach Österreich auf.
Hasan wird auf dem islamischen Friedhof im 23. Bezirk in Wien bestattet – Nahed besucht ihn dort dreimal pro Woche. Darum versucht sie auch, eine Wohnung in Wien zu finden: „Das Hin- und Herfahren ist teuer. Ich habe wenig Geld.“ Für ihre Ein-Zimmer-Wohnung verlangt der Vermieter in einer schlechten Gegend Wiener Neustadts 500 Euro plus Strom. Obwohl das überteuert ist, konnte sie in Wien nichts Vergleichbares um den gleichen Preis finden. „In Syrien hatten wir ein großes schönes Haus mit Garten. Wir hatten gute Berufe, wir gingen beide viel arbeiten und halfen uns gegenseitig. Wir hatten es gut“, sagt Nahed. „Doch dann kam der Krieg, und nun ist mein Mann in einem Land gestorben, in dem eigentlich Frieden herrscht.“

Frieden – den könne sie erst finden, wenn sie wisse, dass ihre Kinder als glückliche Menschen aufwachsen, sagt sie. Tala geht ab September in die Schule und lernt dort Deutsch. Zaid geht bereits in die Schule und beherrscht die Sprache schon. Er sieht seinem Vater ähnlich und erinnert Nahed täglich an Hasan: „Das Letzte, was mein Mann mir gesagt hat, war: ,Egal, was du tust, schau mir auf die Kinder.“

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