Geschworenen-Entscheidung gegen Gutachter kein Einzelfall

PROZESS NACH AMOKFAHRT IN GRAZ: ALEN R.
PROZESS NACH AMOKFAHRT IN GRAZ: ALEN R.APA/ERWIN SCHERIAU/APA-POOL
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Bis zu sechs Mal jährlich wird anstelle der ursprünglich beantragten Unterbringung eine Haftstrafe verhängt. Nach dem Amokfahrer-Urteil gibt es dennoch Kritik an der Geschworenen-Gerichtsbarkeit.

Das nicht rechtskräftige Urteil im Fall des Grazer Amokfahrers - lebenslang plus Einweisung in eine Anstalt - ist deshalb bemerkenswert, weil die Geschworenen den Mann für schuldigfähig befanden, obwohl zwei von drei beigezogenen Psychiatern ihn als unzurechnungsfähig einstuften. Der erste Fall, in dem gegen die Einschätzung von Sachverständigen entschieden wird, ist das keineswegs.

Selten, aber doch rücken Schöffen- oder Geschworenengerichte bei der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit von Straftätern von der Einschätzung der von der Justiz bestellten Sachverständigen ab. Wie die Austria Presseagentur unter Berufung auf Zahlen vom Justizministerium berichtet, haben sich Gerichte in den letzten 20 Jahren in vier Dutzend Fällen über die von Psychiatern empfohlene Einweisung hinweggesetzt und - wie bei Alen R. - die Betroffenen schuldig erkannt, bestraft und allenfalls zusätzlich aufgrund einer Gefährlichkeitsprognose in den Maßnahmenvollzug eingewiesen.

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Ministerium: Entscheidung "grundsätzlich nicht einfach"

Bis zu sechs Mal jährlich wird anstelle der ursprünglich beantragten Unterbringung eine Haftstrafe verhängt. Heuer wurden bisher fünf derartige Entscheidungen getroffen. Zu den Beweggründen erläuterte Britta Tichy-Martin, Ressortmediensprecherin im Justizministerium, am Freitag: "Es kommt mitunter vor, dass in der Verhandlung noch ein zweiter Gutachter bestellt wird oder neue Beweisergebnisse zutage treten". Da es sich bei der von den Gerichten vorzunehmenden Beurteilung, ob ein Täter am Tag X zurechnungsfähig war oder nicht, stets um eine so genannte Ex-Post-Betrachtung handelt, sei diese Entscheidung "grundsätzlich nicht einfach".

Neue, erst nach dem auf einem psychiatrischen Gutachten beruhenden, von der Staatsanwaltschaft eingebrachten Unterbringungsantrag gewonnene Erkenntnisse könnten in Ausnahmefällen dazu führen, dass vom Antrag auf Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher abgewichen wird, so Tichy-Martin.

Psychiater Haller: Kritik an Geschworenen-Entscheidung

Der bekannte Psychiater Reinhard Haller übt in einer ersten Stellungnahme zum nicht rechtskräftigen Urteil Kritik am Rechtssystem. Der Umstand, dass die Geschworenen zu entscheiden hatten, ob R. zurechnungsfähig war - zwei von drei Psychiatern waren anderer Meinung gewesen - störe ihn, sagte Haller am Donnerstagabend gegenüber der Austria Presseagentur.

"Es geht hier um eine medizinische Frage", stellte Haller fest - und man würde bei einer Uneinigkeit der Experten in einer solchen Frage wohl üblicherweise nicht Laien zurate ziehen, wenn etwa im Falle einer Operation unterschiedliche Fachmeinungen herrschen würden. Zudem wies der Psychiater darauf hin, dass ein Staatsanwalt die Geschworenen beim heutigen Schlussplädoyer auch dazu aufrief, auf ihr Bauchgefühl zu hören.

Drei Gutachten, zwei Meinungen

Vor dem Prozess in Graz gab es drei Gutachten, die Alen R. jeweils eine Schizophrenität diagnostiziert haben, erläuterte Haller. Es sei ihm in diesem Zusammenhang aufgefallen, dass es vor Gericht schwierig gewesen sei "zu verquicken", was diese psychiatrische Erkrankung denn eigentlich ausmache. So sei die Frage aufgekommen, ob diese Diagnose denn aufgrund des relativ hohen Intelligenzquotienten des Angeklagten überhaupt der Fall sein könne.

Aufgrund der Prognose für Alen R. geht Haller jedenfalls davon aus, dass dieser aufgrund seiner Gefährlichkeit sowie der negativen Prognosen - unabhängig vom heutigen Urteil - wohl auf lange Zeit in einer Anstalt untergebracht sein werde. Grundsätzlich würde er zudem kritisieren - in seiner Rolle als Staatsbürger, wie Haller betonte -, dass der Prozess in Graz, dem Ort der Amokfahrt, stattgefunden hat.

Reform des Laienrichter-Systems

Eine Reform der Geschworenengerichtsbarkeit fordert  Friedrich Forsthuber, der Präsident des Landesgerichts Wien und Obmann der Fachgruppe Strafrecht in der Richtervereinigung. Den Laienrichtern sollten Berufsrichter zur Seite gestellt werden, dann sei zum Urteil auch eine Begründung zu liefern, in der die Entscheidungsfindung festgehalten wird, schlägt Forsthuber am Freitag im Ö1-Morgenjournal vor.

Josef F. und Philipp K. als Beispiele

Einweisung nach Paragraf 21/2 StGB

In dem Fall kam Paragraf 21/2 des Strafgesetzbuches (StGB) zur Anwendung. Dabei geht es darum, dass auch Personen, die zum Zeitpunkt einer von ihnen begangenen Tat zurechnungsfähig waren, in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen werden können.

Ein Täter muss zum einen eine Tat verübt haben, die mit mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht ist. Zum anderen wird ihm zuerkannt, dass er die Tat unter "Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad" begangen hat. Und es wird festgestellt, dass zu befürchten ist, dass er ohne die Einweisung "unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit" eine Straftat mit schweren Folgen verüben könnte. Die Gutachter Anita Raiger und Manfred Walzl hatten Alen R. im Grazer Prozess als "von seiner Persönlichkeit her hochgefährlichen Menschen" bezeichnet.

Dass zurechnungsfähige Straftäter zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und zusätzlich in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen werden, kommt immer wieder vor. Im Inzestfall von Amstetten fasste Josef F. lebenslang und eine Einweisung aus, dasselbe widerfuhr dem Wiener Jus-Studenten Philipp K., der im Juli 2010 seine frühere Freundin in Hietzing bestialisch getötet und zerstückelt hatte. In beiden Fällen gingen die Gerichte davon aus, dass die Täter zwar schuldfähig, aber aufgrund ihrer Abnormität derart gefährlich waren bzw. sind, dass sie ihre Strafen nicht in einem herkömmlichen Gefängnis, sondern im Maßnahmenvollzug zu verbüßen haben. Josef F. und Philipp K. sind in einer Spezialabteilung der Justizanstalt Krems-Stein untergebracht.

Zurechnungsfähige Täter, die im Maßnahmenvollzug landen, können nach Verbüßung ihrer Strafe weiter angehalten werden, und zwar grundsätzlich ohne zeitliche Befristung. Eine Entlassung kommt erst dann in Betracht, wenn ihnen ein psychiatrischer Sachverständiger bescheinigt, dass von ihnen dank der therapeutischen bzw. medikamentösen Behandlung, die im Maßnahmenvollzug zu erfolgen hat, keine Gefahr mehr ausgeht. Selbst bei Tätern, die wie Josef F., Philipp K. oder - sollte sein Urteil Rechtskraft erlangen - Alen R. lebenslange Haft ausgefasst haben, ist diese Regelung durchaus von Bedeutung. Lebenslange können frühestens nach Verbüßung von 15 Jahren ihre bedingte Entlassung beantragen. Bei Alen R. käme eine bedingte und generell die Entlassung nur dann in Betracht, wenn auf Basis gutachterlicher Feststellungen gesichert ist, dass von ihm keine neuerlichen Straftaten mit schweren Folgen mehr zu erwarten sind.

(APA/Red.)

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