Der seltenste Schnaps der Welt

100 Kilogramm Wurzeln darf man pro Genehmigung ausgraben, daraus werden etwa sieben Liter Schnaps.
100 Kilogramm Wurzeln darf man pro Genehmigung ausgraben, daraus werden etwa sieben Liter Schnaps. Imago
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360 Grad Österreich: In Galtür beginnt wieder das Enzianstechen. 100 Kilogramm Wurzeln benötigt man, um sieben Liter Schnaps herzustellen, den man nirgends kaufen kann.

Der Wind weht kalt vom Jamtalferner ins Tal. 3160 Meter ragt der Gletscher hoch, ein paar hundert Meter tiefer schultert Sigrid Juen an diesem frühen Morgen ihren Rucksack, Ehemann Georg nimmt zwei Krampen aus dem Landrover, packt sie auf ein Tragegestell und dann geht's hinauf Richtung Gletscher.

Es könnte eine nette, familiäre Bergwanderung sein, wären da nicht die Spitzhacken und wäre da nicht der elfjährige Sohn Peter, der immer wieder auf verdorrte Blumen am Wegrand zeigt: „Da is einer, Papa.“ Georg nickt: „Ja, aber wir schauen weiter oben.“ Dort, wo es vielleicht etwas sandiger ist, wo man leichter graben kann. Denn die kommenden Stunden sind Schwerarbeit.

Familie Juen geht hier am Ende des Jamtals auf mehr als 2000 Metern Seehöhe einer jahrhundertealten Tradition nach: dem Enzianstechen, das es in dieser Art nur noch in Galtür in Tirol gibt. Am Ende des Tages werden sie etwa 40 Kilogramm Wurzeln ausgegraben haben, aus denen ein ganz spezieller Schnaps gebrannt wird.

„Wennst' das als Mühsal empfindest, dann musst' es eh bleiben lassen“, erklärt Georg Juen. „Für uns ist es die Aufrechterhaltung eines Brauchs, außerdem ist es nett, wenn die ganze Familie etwas gemeinsam unternimmt.“ Und ganz nebenbei bekommt man am Ende einen einzigartigen Schnaps, um den einen viele beneiden. „Einen Enzian“, erklärt Sigrid, „kannst nicht kaufen, den musst dir verdienen.“ „Wenn dir einer einen Enzian anbietet“, ergänzt Georg, „dann ist das etwas ganz Besonderes.“ Es ist also recht einfach, seinen sozialen Stand in Galtür festzustellen: Ist man jemandem einen Enzian wert oder nicht?


Kein Parfum. Man muss ein paar Dinge erklären. Der Enzianschnaps, den man in Galtür brennt, hat nichts mit dem zu tun, der in Supermärkten verkauft wird und meist parfümiert ist. Er wird auch nicht aus der Blüte des blauen Enzians hergestellt, wie das Etikett der Massenware suggeriert. Er besteht aus der Wurzel des Gelben Enzians, der hier im Paznauntal wächst.

Doch seit den 1960er-Jahren ist Enzian streng geschützt, man hätte also auf eine Tradition verzichten müssen, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht. Damals führte man den Enzer in einem botanischen Buch als wohltuende Magenarznei, wie Dorfchronist Gerhard Walter weiß. Man kämpfte also in Galtür und konnte tatsächlich eine Ausnahme erstreiten: Jedes Jahr gibt es 13 Genehmigungen, Wurzeln auszugraben.

Am Galtürer Kirchtag, zu Mariä Geburt am 8. September, findet die Verlosung statt. Nach dem Gottesdienst gehen die Bewerber – heuer waren es 75 Haushalte (Galtür hat 772 Einwohner) – ins Gemeindeamt. 13 Personen hatten auf ihrem Los eine Gebietsangabe, wo sie mit ihrer Familie und Freunden graben gehen dürfen. Erst ab 1. Oktober darf man mit den Pickeln auf den Berg, und dann sollte man schnell sein: Schnee im Oktober ist in Galtür keine Seltenheit, aktuell gibt es Morgentemperaturen von minus fünf Grad.

Die Genehmigung gilt für 100 Kilogramm Enzianwurzeln. Das klingt viel, daraus werden aber nur sechs, sieben Liter Schnaps. Gerade genug, dass man damit – wenn der Enzer tatsächlich in homöopathischen Dosen genossen wird – drei Jahre lang auskommt. Denn so lang ist eine einmal gezogene Familie für die nächsten Verlosungen gesperrt.

Oben im Jamtal haut Georg Juen seinen Krampen tief in den Boden. Er greift den verblühten Enzian, gräbt die Erde zur Seite, hebt einen schweren Stein weg und zieht schlussendlich eine 40, 50 Zentimeter lange Wurzel aus dem Boden. „Das ist ideal“, sagt er und zeigt auf den dicken Stock. „Das Aroma kommt aus dem dicken Teil.“ Die kleineren, jungen Wurzeln haben dafür mehr Saft. „A g'scheite Mischung“ müsse man zusammenbringen. Zwei, drei Tage wird er mit Sohn Peter graben, bis sie die 100 Kilogramm zusammen haben.

Sigrid schneidet die Wurzeln zurecht und putzt sie. „Wenn mehr Erde drauf ist, schmeckt der Schnaps erdiger“, erklärt sie. Die Juens haben den Schnaps gern direkter, deshalb werden die Wurzeln zu Hause noch einmal ordentlich gesäubert.

Manche nehmen dafür den Kärcher her. Ein Graus für Hermann Lorenz, einen der letzten Schnapsbrenner in Galtür. „Mit dem Hochdruckreiniger beschädigt man die Haut, und in der sind die ganzen Bitterstoffe drinnen, die den Enzianschnaps auszeichnen“, erklärt der 43-Jährige. Gemeinsam mit zwei Freunden brennt er seit zwei Jahren wieder Schnaps in Galtür – „damit das nicht ausstirbt“. Denn es gibt in der kleinen Tiroler Ortschaft nur noch einen einzigen weiteren Schnapsbrenner. Wer nicht bei ihnen brennen lässt, der muss in Nachbarorte gehen oder zu professionellen Brennern.

Die Verarbeitung variiert dabei nur wenig. Die 100 Kilogramm Wurzeln – mit oder ohne Erde – werden in einem Häcksler zerkleinert und kommen in ein 220-Liter-Fass mit Wasser. „Wir tun a bissl a Hefe hinein, damit es die Gärung ankurbelt“, erzählt Lorenz. Andere verwenden nur Wasser. Nach sechs bis sieben Wochen ist die Maische vergärt. Wenn man keinen Zucker mehr feststellen kann, beginnt man mit dem Brennen.

Und hier schlägt wieder die österreichische Bürokratie zu, die offenbar immer noch in Zeiten des Alkoholmonopols lebt. Beim Zollamt muss man um eine offizielle Erlaubnis für das Brennen von 220 Liter Maische ansuchen. Nach einer alten Formel wird daraus eine Genehmigung, die genau 8,7 Stunden lang gilt. Länger darf man nicht brennen, sonst macht man sich strafbar.


Vorlauf zum Einreiben. „Den Vorlauf verwenden manche zum Einreiben, wenn man etwa Muskelkater hat“, sagt Lorenz. Der Mittellauf wird zweimal gebrannt, daraus werden die rund sieben Liter Schnaps. Und dieser Schnaps wird gehütet. Theoretisch hat er einen Wert von 220, 250 Euro pro Flasche. Theoretisch. „Den verkauft ja niemand“, meint der Wirt der Ballunspitze, als Gäste danach fragen.

„Wir nehmen ihn her, wenn man Magenschmerzen hat oder wenn man sich kränklich fühlt“, sagt Sigrid. Oder er wird ausgeschenkt, wenn jemand einen runden Geburtstag feiert oder heiratet und kommt, um zur Hochzeit einzuladen. „Es muss schon ein besonderer Anlass sein.“

Und wie schmeckt er nun, der Enzianschnaps? Bitter, einer ein bisschen erdig, der andere weniger, auf jeden Fall wie ein Schnaps, den man nicht am Abend in einer geselligen Runde Glas um Glas trinkt, sondern sehr bewusst. Gesund eben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2016)

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