Ratlos nach dem Grauen

Ob das Haus schon so unheimlich war, bevor man wusste, dass hier fünf Menschen ermordet wurden? Die Tat bleibt auch für Nachbarn unbegreiflich.
Ob das Haus schon so unheimlich war, bevor man wusste, dass hier fünf Menschen ermordet wurden? Die Tat bleibt auch für Nachbarn unbegreiflich.(c) Clemens Fabry
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Warum erschießt eine Frau ihre Familie? Nach dem Fünffachmord von Böheimkirchen spekuliert man über Sorgerechtsstreitigkeiten oder Krankheit. Eine Spurensuche.

In der Siedlung leuchten abends die Lichterketten. Wenn man bei den Fenstern hineinschaut, sieht man Weihnachtssterne und vorabendliches Treiben in einer Gegend, die durchschnittlicher nicht sein könnte. Nicht nobel, nicht heruntergekommen, Häuschen um Häuschen, Mittelklasseautos, Adventschmuck und Anfang-Dezember-Tristesse, so oder ganz ähnlich wie hier, in einem abgelegenen Teil von Böheimkirchen, könnte diese Straße überall sein. Im früheren Gasthaus, vielleicht fünfzig Meter dahinter, brausen die Züge der Weststrecke vorbei, brennt kein Licht. Auch Adventschmuck gibt es nicht, nur gut ein Dutzend Kerzen brennt auf der Stiege für die Familie. Sie ist tot, alle erschossen.

In der Küche leuchtet noch die Uhrzeit an der Mikrowelle, Mandarinen liegen auf der Anrichte, an der Tür ein Billa-Sackerl mit Schokolade, als seien die Bewohner nur kurz weg. Das Haus ist alt, investiert wurde hier lang nichts, auch nicht im Garten. Auf der Terrasse stehen noch Kinder-Sonnenliegen, abgestorbene Pflanzen hat niemand weggeräumt. Aber was soll einem das schon erklären?

Es erklärt nicht, ob das Haus schon zuvor so unheimlich war. Bevor man wusste, dass hier vor wenigen Tagen eine 35-jährige Frau die Kleinkaliberwaffe ihrer Mutter genommen und damit ihre drei Kinder, ihre Mutter und ihren Bruder erschossen hat. Schulterzucken, „Was soll man da sagen“, sagt eine Nachbarin, die mit einem Häferl Tee auf einem Balkon steht, auf das gespenstische Haus hinüberschaut. Die Polizei und die Massen an Medien sind wieder weg, nur die Kerzen erinnern. Erklären kann sich das, was sich in den 20 Monaten seit dem Einzug der Familie, hier zusammengebraut haben muss, niemand.

„Unbegreiflich“, „Nichts mitbekommen“, „Nie gedacht, dass so etwas auch bei uns passiert“, „Ich kann es einfach nicht glauben“, das sind die Reaktionen der Nachbarn, die trotz vieler Reporterfragen noch freundlich über ihre Ratlosigkeit reden. Reaktionen, wie man sie nach Bluttaten wie dieser stets hört. Die Abläufe ähneln einander. Erst Entsetzen, dann, als ob man Distanz suche, folgen Aussagen, dass „sie“, die Betroffenen, schon anders gewesen seien.

Die 35-Jährige, offenbar Täterin in diesem Fall, sei seltsam gewesen, hört man nun auch. Man habe sie nie gesehen, die Kinder hätten mit niemandem spielen dürfen, Kontakt im Dorf wurde abgelehnt, selbst im Sommer seien die sechs kaum draußen gewesen. Wenn, vielleicht hinter den Hecken, wo sie niemand sah, sagt ein Nachbar, und, dass er nicht einmal gewusst habe, wer da aller wohne. Martina R., die 35-Jährige, war offenbar arbeitslos, ein Foto zeigt sie als durchaus hübsche Frau, lange, rot gefärbte Haare, glitzerndes Kleid. Man weiß wenig über sie. Nun kursieren Spekulationen über schwierige Umstände. Ein Sorgerechtsstreit um die drei Kinder im Alter von sieben bis zehn Jahren soll anhängig sein. Michaela Schnell, die Leiterin der Staatsanwaltschaft St. Pölten, bestätigt das gegenüber der „Presse am Sonntag“ nicht, aus der Sorgerechtssituation gebe es noch keine Hinweise auf ein Motiv.

Die Ermittlungen gehen derzeit eher in Richtung der Krebserkrankung der Mutter. Die 59-Jährige soll vor rund zwei Wochen die Diagnose erhalten haben, kurz darauf dürfte die 35-Jährige, indem sie ihre Kinder in der Schule entschuldigte, den Mord geplant und umgesetzt haben. Die Details des Ablaufs werden die Obduktionen ergeben, deren Ergebnisse frühestens Mitte kommender Woche vorliegen werden.

Vieles wird Spekulation bleiben

Aber erklärt eine Erkrankung der Mutter den Mord an den eigenen Kindern? Natürlich könne das allein kein Motiv sein, sagt Schnell. Man hoffe, dass die Ermittlungen Aufschluss geben. Zwar sei die Spurenlage relativ eindeutig, aber auch dass die 35-Jährige die Familie erschossen hat, muss abschließend erst bestätigt werden. Von einem Abschiedsbrief ist nichts bekannt, damit wird das Motiv zu großen Teilen Spekulation bleiben.

Warum wird eine Frau zur Mörderin ihrer Familie? Annähern kann man sich über die Erkenntnisse der Kriminalpsychologie. Die geht davon aus, das ein Großteil der Fälle von Mord-Suizid im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen stehen. Mord-Suizid, dieser Begriff ersetzt zunehmend den umstrittenen Ausdruck des „erweiterten Suizids“. Ab vier Toten spricht man auch von Massenmord.

Vermeintlich, oder in der eigenen Wahrnehmung, handeln laut Kriminalpsychologen bei Mord-Suizid gerade Frauen aus altruistischen Motiven. Töten ihre Kinder, um ihnen ein Leben ohne Mutter, Schande und Stigma zu ersparen. Frauen würden oft im Wahn töten, sie wollen den Kindern das Leben in einer „bösen“ Welt ersparen, im Jenseits sei man vereint. Für Psychiater sind die „Selbstmord-Mörder“ eine eigene Spezies, die Motive unterscheiden sich von „gewöhnlichen“ Mördern und Suizidenten, auch zwischen weiblichen und männlichen Suizid-Mördern. Männer würden eher aus Rache oder Verlustängsten handeln, Selbsthass, Minderwertigkeitsgefühle, Größenwahn und Hass auf die Gesellschaft seien bei ihnen oft eine fatale Kombination.

Zwar ist Mord-Suizid im Verhältnis selten, Studien gehen von einer Rate von unter 0,2 bis 0,3 pro 100.000 Einwohner aus. Und doch kommt es in erschreckender Regelmäßigkeit zu solchen Taten. 2015: Ein junger Kärntner tötet seine Eltern und rast in den Tod. 2013: Eine Frau in Ottakring tötet ihre Kinder, schneidet ihre Pulsadern auf und stürzt sich aus dem Fenster. März 2013: In Marchegg erschießt ein Mann seine Frau, seine Tochter, dann sich selbst. November 2012: In Tirol ersticht ein 51-Jähriger seine Söhne und tötet sich selbst. Mai 2012: Ein 37-Jähriger holt seinen Sohn aus dem Klassenzimmer, schießt ihm in der Garderobe in den Kopf und flüchtet, später wird er tot aufgefunden. Dramen, die man so nicht vorhersehen konnte, heißt es dann. An Orten, die normaler kaum sein könnten. Und an denen nur Ratlosigkeit bleibt.

Chronologie

20. November. Um dieses Datum soll die mutmaßliche Täterin ihre 59-jährige Mutter aus dem Krankenhaus nach Hause geholt haben. Die Mutter habe unmittelbar zuvor die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs erhalten.

Kurz darauf, am 21. November ruft die 35-Jährige in der Schule ihrer Kinder an, erklärt dort, dass die Großmutter der drei Kinder – ein siebenjähriges Mädchen und Buben im Alter von neun und zehn Jahren – gestorben sei. Sie spricht von einem „großen Schock für die Familie“ und entschuldigt die Kinder für ein paar Tage. Man habe sich nichts dabei gedacht, sagt die Schuldirektorin später.

Am 1. Dezember, vorigen Donnerstag, schlägt der Arbeitgeber des Bruders der Frau Alarm. Der 41-Jährige sei seit Tagen nicht erschienen. Polizisten halten Nachschau und entdecken die sechs Leichen.

Wann genau die Tat passiert ist, das ist noch Gegenstand von Ermittlungen. Angeblich gibt es Hinweise, dass die Opfer zeitversetzt – aber offenbar alle im Schlaf – getötet worden sind.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2016)

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