Eine Stadt und ihr „Vorfall“

Bürgermeister Peter Eisenschenk vor einem der fünf Flüchtlingsquartiere in Tulln.
Bürgermeister Peter Eisenschenk vor einem der fünf Flüchtlingsquartiere in Tulln.(c) Claudia Schreiner
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Wenn in Tulln über Asylwerber gesprochen wurde, ging es bisher stets um ihre vorbildliche Betreuung. Dann kam der 25. April. Seither ist von „Enttäuschung“ und „Entfremdung“ die Rede.

Ob im Wirtshaus, in der Schule, beim Friseur, auf dem Fußballplatz oder an der Bushaltestelle – in Tulln gibt es derzeit kaum einen Ort, an dem nicht über den „Vorfall“ gesprochen wird. Wo Menschen zusammenkommen, egal, ob sie sich kennen oder nicht, ist der „Vorfall“ das dominierende Thema in der 15.000 Einwohner zählenden Stadt in Niederösterreich.

Wenn davon die Rede ist, weiß jeder, was gemeint ist. Und jeder hat eine Meinung dazu. Oder besser gesagt, einen „Standpunkt“, wie es die Kellnerin eines Innenstadtlokals formuliert. Sie wird jeden Tag Zeugin davon, dass „der Vorfall niemanden kaltlässt. Alle wissen davon, alle reden darüber. Selbst die, die gar nicht darüber reden wollen. Wie ich. Aber man kommt einfach nicht aus.“

Mittlerweile wissen nicht nur in Tulln alle davon, der Fall eines 15-jährigen Mädchens hat in ganz Österreich traurige Bekanntheit erlangt. Die Jugendliche hatte angegeben, am 25. April kurz nach 22 Uhr auf dem Nachhauseweg vom Bahnhof von drei jungen Asylwerbern überfallen und vergewaltigt worden zu sein. Zwei von ihnen hätten sich nacheinander an ihr vergangen, während der dritte Mann aufgepasst habe, dass sie niemand dabei beobachtet.


59 Männer getestet.
Nach der Anzeige am nächsten Morgen wurde die 15-Jährige untersucht, dabei fanden die Ärzte Spermaspuren von zwei Männern. Auf Anordnung der Staatsanwaltschaft mussten daraufhin 59 Männer DNA-Proben abgeben.

Bei ihnen handelte es sich um 34 Asylwerber aus drei Containerdörfern und um weitere 25, die in privaten Unterkünften in Tulln untergebracht sind. Noch nie war in Österreich eine Untersuchung mit Massen-DNA-Proben veranlasst worden.

Zwei Wochen später, am 16. Mai, wurde ein Afghane aufgrund der Übereinstimmung seiner DNA mit den gesicherten Spuren festgenommen. Zwei Tage später stellte sich ein Somalier selbst bei der Polizei, auch bei ihm gibt es eine DNA-Übereinstimmung. Beide sind seither in Untersuchungshaft.

Ob nach einem dritten Verdächtigen gefahndet wird, will die Staatsanwaltschaft „aus kriminaltaktischen Gründen“ nicht sagen. Auch sonst werden keine weiteren Details zu dem Fall bekannt gegeben. Informationen der „Presse am Sonntag“ zufolge sind die Männer jedenfalls nicht geständig, sie sprechen von einvernehmlichem Sex.

Über das Verfahren selbst will auch Tullns Bürgermeister Peter Eisenschenk (ÖVP) nicht sprechen. Er hatte als erste Maßnahme unmittelbar nach dem Bekanntwerden, dass die Verdächtigen aus Tulln stammen, die Zuteilung weiterer Asylwerber verweigert. Diese Entscheidung habe er „innerhalb weniger Minuten“ treffen müssen und habe sie „ganz allein“ getroffen, wie er betont.

Dies sei angesichts der geladenen Stimmung in Tulln notwendig gewesen. Vor allem, um zu deeskalieren und die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen – so habe er etwa eine E-Mail mit der Nachricht erhalten, wonach sich „entweder die Politik um die Angelegenheit kümmert, oder wir nehmen das selbst in die Hand“.

Zudem sei es notwendig gewesen, zu betonen, dass auf so einen Vorfall reagiert und signalisiert wird, dass „es null Toleranz gegenüber straffälligen Asylwerbern gibt, die das Gastrecht missbrauchen“, sagt Eisenschenk. „Denn Sie glauben ja nicht, was ich in den vergangenen Tagen noch für E-Mails bekommen habe. Ich will nicht alle wiederholen, nur so viel: Teilweise waren sie aus der untersten Schublade.“ Plötzlich sei die Arbeit der Hunderten Helfer auf dem Spiel gestanden, die sich bisher mit viel Einsatz um die Asylwerber gekümmert hätten.


Sieben Quartiere.
Tatsächlich gilt Tulln als Vorzeigebeispiel, wenn es um die Unterbringung und Betreuung von Asylwerbern geht. Während des großen Flüchtlingsstroms im Sommer 2015 wurden Tausende Personen kurzfristig in der Messehalle versorgt.

Dann entstanden fünf Containerquartiere, in denen jeweils bis zu 20 Asylwerber wohnen können. Insgesamt leben derzeit 81 Menschen aus diversen Ländern wie Afghanistan, Irak etc. in diesen Containern, wobei sich diese Zahl praktisch täglich ändert, wie das für die Quartiere zuständige Rote Kreuz mitteilt.

Größere Probleme gab es bisher kaum. Freizeit- und Sportangebote wurden durchaus angenommen. Auch Deutschkurse, die von Initiativen wie „Tulln hilft“ organisiert wurden. Zwar gab es auch strafrechtlich relevante Delikte, zumeist wegen (auch schweren) Körperverletzungen und gefährlichen Drohungen innerhalb der Quartiere, regelmäßige massive Polizeieinsätze, wie von vielen befürchtet, blieben aber aus.


Verunsicherung auf beiden Seiten.
„Weswegen das Zusammenleben auch immer gut funktioniert hat“, sagt eine Lehrerin, die den Asylwerbern ehrenamtlich Deutschunterricht gibt. Seit dem „Vorfall“ aber spüre sie eine gewisse „Entfremdung“ in der Bevölkerung. Und zwar bei jenem Großteil, der den Asylwerbern bisher „eher neutral und abwartend“ gegenübergestanden und sich „weder an der Willkommens- noch an der Ablehnungskultur“ beteiligt habe. Diese Leute seien enttäuscht, irritiert und zeigten Verständnis für die, die sich von Anfang an gegen die Aufnahme von Asylwerbern ausgesprochen hätten. Die – für sie nachvollziehbare – vorherrschende Meinung laute: „Wir nehmen sie auf, helfen ihnen, und dann passiert so etwas.“ Das wiederum sorge für Unbehagen bei den Asylwerbern, die Angst vor Übergriffen, Abschiebung und Zurückweisung hätten.

Weswegen sie dem Roten Kreuz zufolge auch nicht mit den Medien sprechen wollten. In den Quartieren herrsche einfach zu viel Unsicherheit, wie ein Sprecher auf Nachfrage mitteilt.

Auch Bürgermeister Eisenschenk befürchtet das „Zunichtemachen“ und die „Herabwürdigung“ der bisherigen Arbeit in Tulln. Die Geschehnisse vom 25. April seien wie ein „grelles Licht, das alle anderen bunten Farben in Tulln verblassen lässt“.

Wie es weitergehen soll, könne auch er nicht sagen. Nun stünden Gespräche mit dem Land Niederösterreich, der Polizei, dem Roten Kreuz und anderen politischen Parteien an. Man habe genug Zeit, um über die weitere Vorgehensweise nachzudenken. Eine Auflösung der Quartiere, wie von der FPÖ gefordert, komme jedenfalls nicht infrage. Ihm gehe es jetzt vor allem um die Sache, also um die Aufklärung der Geschehnisse vom 25. April. Und was das „grelle Licht“ angehe: „Da müssen wir als Gemeinschaft jetzt durch.“

Fakten

Attacke. Am 25. April sollen drei junge Asylwerber in Tulln eine 15-Jährige überfallen und vergewaltigt haben. Zwei von ihnen befinden sich mittlerweile in Untersuchungshaft. Sie sind nicht geständig.

Ermittlung. Um die Verdächtigen ausfindig zu machen, wurde erstmals in Österreich eine Untersuchung mit Massen-DNA-Proben veranlasst. Dafür mussten 59 Asylwerber DNA-Proben abgeben. Bei den beiden inhaftierten Männern gab es Übereinstimmungen mit den sichergestellten Proben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2017)

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