Überlastet, zersiedelt, verbaut: Grenzen des Booms in den Bergen

Die Ötztaler Alpen sind noch ein Ort großflächiger alpiner Wildnis.
Die Ötztaler Alpen sind noch ein Ort großflächiger alpiner Wildnis.(c) Matthias Schickhofer
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Die Berge als Erlebniswelt, von Pisten und Seilbahnen verbaut, zersiedelt, verplant, und von den Folgen des Klimawandels massiv betroffen: Das „Schwarzbuch Alpen“ zeigt Grenzen der Belastbarkeit des alpinen Raumes. Und fordert einen neuen Umgang, um die sensiblen Naturlandschaften zu erhalten.

Sie sind der Inbegriff der romantischen, heilen Welt. „Das wilde Herz Europas.“ „Unsere Seelenheimat.“ Es wird oft dick aufgetragen, wenn es darum geht, die Alpen als Sehnsuchtsort zu beschreiben. Immerhin, wenn man so etwas wie ein Nationalgefühl, ein kollektives Heimatgefühl, verorten will, man würde das wohl in den Alpen tun.

Aber so heil ist die Welt in den Bergen zwischen Nizza und Wien nicht, im Gegenteil. Viele der Zumutungen unserer Zeit, vor denen man sich so gern in die heimeligen Berge flüchtet, konzentriert sich dort erst so richtig. Die Folgen der Klimaerwärmung, des Massentourismus, teilweise Abwanderung, Überalterung, Luftverschmutzung und Lärmbelästigung durch den Verkehr, sterbende Orte, zugebaute Gegend durch Fehler in der Raumplanung.

Die Schönheit wird zum Fluch

Das ist zumindest das Urteil, das auch der Umweltaktivist, Autor und Naturfotograf Matthias Schickhofer über die dicht besiedelte und bewirtschaftete Gebirgskette fällt. Sein „Schwarzbuch Alpen“ – es wird am Montag beim Alpenverein in Wien offiziell präsentiert – klagt an: Pisten, Seilbahnen, die Straßen oder Zersiedelung ruinieren die Bergwelt.

Den Alpen sei ihre Schönheit zum Problem geworden, sie, so Schickhofer, verkommen zu einer Kulisse für Spaß-Touristen, zum Sportgerät, die Naturlandschaften nehmen daran Schaden. „Jeder, der in die Berge geht, sieht, wie stark sie sich verändern. Die Plätze meiner Kindheit sind heute verbaut. Die Planai war damals ein kleines Skigebiet, heute umfasst sie fast den ganzen Berg“, sagt Schickhofer.

Und zu den kleineren, unmittelbaren Eingriffen durch Menschen kommen die großen, globalen Veränderungen: die Klimaerwärmung, die Unwetter, Überflutungen, Murenabgänge oder, dass das Auftauen des Permafrostbodens zunehmend Felsstürze mit sich bring. Die Berge zerbröseln. „Aber das ist in Österreich ein verdrängtes Thema, dabei sind die Alpen, weil sie teils besonders steil sind, davon besonders betroffen“, sagt Schickhofer. Und gerade der Wintertourismus, der auf Massen und Pistenskifahren setzt, stößt an Grenzen – und wird mangels Schnee in vielen Gebieten langfristig verschwinden. „Nur die Protagonisten des Tourismus tun so, als ginge das ewig so weiter, es wird weitergebaut, an riesigen Projekten geplant ...“

Alpen am Scheideweg

Er sieht die Alpen an einem Scheideweg – und beschreibt die drängendsten Probleme: Gletscher- und Permafrostschmelze destabilisieren die Hänge, der Effekt sind Felsstürze, wie erst zuletzt im Pinzgau oder in der Schweiz (siehe rechts).

Extremwetterereignisse wie Starkregen und Intensivschneefall, Dürren oder Stürme werden zunehmen. Die Alpenflüsse werden im Sommer weniger Wasser führen. Die Schneebedeckung wird zurückgehen und unzuverlässiger werden, was das Geschäft mit dem Skifahren in tieferen Lagen in vielen Regionen unrentabel machen wird.

Skisport als Geschäft mit Ablaufdatum

Der Skisport in den Alpen ist ein Geschäft – zumindest als Massensport – mit Ablaufdatum. Schon jetzt schrumpft der Anteil der Kinder, die Skifahren lernen (und der Erwachsenen in Österreich, die das als Alltagssport betreiben). Auch, weil die niedrig gelegenen, und schnell erreichbaren Skigebiete weniger werden.

„Es gibt dieses Bedürfnis nach einer heilen Welt, aber die Realität schaut anders aus“, sagt Schickhofer. Hinter den glitzernden Pisten steht bekanntlich ein unglaublicher technischer Aufwand. Neun von zehn österreichischen Skigebieten werden mittlerweile künstlich beschneit, aber insgeheim wissen die Betreiber der meisten Skigebiete, vor allem in den niedrigeren Lagen: Kunstschnee kann noch ein paar Jahre aushelfen, irgendwann reicht alle Technik nicht mehr.

Umweltschützer kritisieren die Beschneiung: Die Verbauung der Landschaft, den Energie- und Wasserverbrauch, oder die Folgen für den Boden: Der wird durch Pisten stark verdichtet, das sorgt für verstärkten Abfluss von Wasser. Durch die Beschneiung liegt lange eine Schneedecke, die Vegetation kann sich nicht entwickeln, und, so Schickhofer, durch das Beschneiungs-Wasser gebe es dort auch mehr Keime. „Es gibt Untersuchungen in Frankreich, dass hier massive Keimbelastungen des Trinkwassers und der Bäche besteht, es gibt Gegenden, in denen man das Wasser von der Alm nicht mehr trinken kann.“

Dennoch, in den Hochburgen des Wintersports ist man dieser Tage, kurz vor dem Saisonstart, wieder stolz auf viele neue Lifte, neue technische Raffinessen, auf zig neue Pistenkilometer.

Die Schnee-Frage

In niedrigeren Lagen haben viele Skigebiete in den vergangenen Jahren bereits geschlossen, andere stehen vor der Insolvenz, überleben die schneearmen Winter nur Dank öffentlicher Subventionen. Bis Ende des Jahrhunderts könnte es mit dem Skifahren unter 1200 Meter Höhe aber weitgehend vorbei sein: Simulationen der Forscher vom Schweizer Schnee- und Lawinenforschungszentrum SLF haben ergeben, dass dort, sollte sich am Klimawandel nichts Dramatisches verändern, Ende des Jahrhunderts kein Schnee mehr liegen wird. Skifahren werde nur noch auf mehr als 1500 Metern möglich sein – dort, auf über 1500 Metern, liegt in Österreich nur ein Drittel der Skigebiete.

Die Simulationen der Schweizer haben ergeben, dass in 80 Jahren Skifahren nur mehr auf über 1800 Metern üblich sein wird. Und schon 2035 werde die Schneesaison ein bis zwei Monate später beginnen, und einen Monat früher enden als heute. Österreich, das erwarten Tourismusforscher, werde in Zukunft gegenüber riesigen und höher liegenden Skigebieten etwa in Frankreich, stark verlieren.

Modelle für die Zeit nach dem Schnee

Aber auch, weil es mit dem Skitourismus auf geringerer Höhe schwierig wird, müsse man Weichen in Richtung eines nachhaltigeren Tourismus stellen: „Das Kapital wird eine intakte alpine Landschaft sein und nicht noch mehr verkabelte Pisten-Hänge oder Staumauern“, meint Schickhofer. Aber es gibt Modelle für einen schonenden Ganzjahrestourismus.

„Diese kommen ohne Umbau der Landschaft aus“, dabei blieben auch die Kosten gering, um eine dauerhafte, gesicherte wirtschaftliche Basis zu schaffen. Während einige Orte auf Masse und Unterhaltung setzen, bieten schon andere heute Ruhe und Erholung. Modelle für die Zeit nach dem Schnee? Ein Beispiel ist etwas das Winterwandern in Tirol, die Initiative „Alpine Pearls“, zu der sich 24 Tourismusorte in sechs Ländern zusammengetan haben, um den sanften (und autofreien) Tourismus zu bewerben. Oder die vom Alpenverein initiierten „Bergsteigerdörfer“: Ein Netzwerk aus mittlerweile 26 Tourismusorten, die es sich zum Ziel erklärt haben, Natur, alpine Kultur und Tradition zu bewahren, sanften Tourismus zu fördern und Attraktivität im ländlichen Raum zu stärken. Die Zahl der Orte, die mit der Auszeichnung Bergsteigerdorf werben, wächst jedes Jahr.

Fehlen Pläne wie diese, dann stehen die Orte des Massentourismus womöglich in einigen Jahren vor massiven Problemen: Ohne Alternativen zum Wintersport wird sich das Problem der Abwanderung, das jetzt schon große Teile des Alpenraumes betrifft, auch auf die heute wirtschaftlich starken Täler ausbreiten.

Dabei bietet der Klimawandel für den Tourismus in den Alpen auch eine riesige Chance: Bis in die 1990er-Jahre war der Sommertourismus dort das Zugpferd, seither dominiert der Wintertourismus. Aber nicht nur, weil der an Grenzen stößt, könnte sich das umkehren: In vielen internationalen Urlaubsdestinationen könnten die Sommer bald so unerträglich heiß sein, dass die Sommerfrische in den Bergen eine neue Bedeutung bekommen kann. Frische Luft, kühle Seen und intakte Natur? „Um diese Chance zu nutzen, müssten aber die Natur- und Kulturlandschaften der Alpen möglichst unversehrt erhalten werden und dürfen nicht unter Planierraupen und Stauseen verschwinden“, meint Schickhofer. Schließlich wolle niemand zwischen Seilbahnpfeilern wandern. Allerdings, die Marketingabteilungen der Tourismusregionen setzen derzeit eher darauf, auch den Sommer in den Bergen zu einem Event werden zu lassen: Mit Downhill-Mountainbike-Strecken, Sommerrodelbahnen, Skywalks, Seilbrücken und so weiter.

"Degradierung zur Kulisse"

Schickhofer kritisiert auch hier ein „Degradieren zur Sport- und Spaßkulisse“, die das Ökosystem zunehmend auch im Sommer unter Druck bringe.

Am stärksten sind die Veränderungen aber dort sichtbar, wo die wenigsten hinkommen: Auf den Gletschern, die sind schon in den vergangenen 150 Jahren um die Hälfte geschrumpft. Die Alpen sind zugleich das Wasserreservoir Europas. Die Gletscher nehmen im Winter Niederschlag auf, im Sommer geben sie diesen ab. In wenigen Jahrzehnten, wenn die Gletscher weitgehend verschwunden sind, fällt dieser Effekt weg, Bäche und Flüsse können versiegen, See- und Grundwasserspiegel in niedrigeren Lagen sinken, das wird für Trockenheit sorgen, auf Almwiesen wie in der Landwirtschaft.

Konflikte um Wasser drohen

Der Bericht „Klimaänderung und die Schweiz 2050“ geht davon aus, dass drei Viertel der Wasservorräte in den Gletschern bis 2050 verschwunden sein werden. Man gehe von Trockenheit und Konflikten ums Wasser aus. Und das werden Projekte wie der Schutz von Gletschern unter Matten und Folien nur verlangsamen, nicht stoppen. „Das sind dann auch die Gegenden, in denen es mit Wandern und Bergsteigen schnell einmal vorbei sein wird“, meint Schickhofer, schließlich wolle niemand über bröckelige Geröllwüsten gehen.

Unter Stress geraten zunehmend auch die alpinen Wälder, sagt Schickhofer. Sie verlieren ihre Schutzfunktion vor Erosion, Lawinen oder Muren. Immerhin ist die Forstwirtschaft in den Alpen nicht besonders naturnahe, vor 200 Jahren wurden Fichtenwälder angelegt, diese Bestände sind heute relativ gealtert und damit anfällig für Stürme, Trockenheit oder Borkenkäfer, die sich durch die Trockenheit vermehrt ausbreiten werden. Wenn man jetzt durch die Alpen fährt, sieht man, so Schickhofer, richtige „Glatzen“ im Wald. In Kombination mit Verbissschäden durch die hohen Wildbestände bedeute das große Probleme für die Schutzwälder. Schickhofer sieht die Lösung in einer naturnäheren Waldbewirtschaftung, Bewahrung der Naturwälder und eine Reduktion des Schalenwildes.

Versäumnisse in der Raumplanung - auch in den Tälern

Die alpine Bergwelt sei aber auch in den Tälern in Gefahr. Denn: Zersiedelung, ausrinnende Orte, die zu einem „gesichtsloser Siedlungsbrei“ aus Shopping- und Gewerbezentren, aus Einfamilienhäusern und Zweckbauten werden, die alle großen Täler durchziehen. Das trage nicht zu einem ansprechenden Bild alpiner Kultur bei. Er sieht Versäumnisse in der Raumplanung, die vor den Alpen nicht Halt gemacht haben: In wenigen Jahrzehnten wurden die Täler verbaut, die Innenstädte stehen leer. Wie es anders gehen kann, das zeigt zum Beispiel Bayern: Dort steht der Schutz des Landschaftsbilds in der Verfassung, damit Städte, Siedlungsstrukturen und Landschaft erhalten bleiben, darf nur an bestehende Siedlungen angebaut werde.

„Die Naturlandschaft der Alpen hat ihre beste Zeit hinter sich“, sagt Schickhofer angesichts der Verbauung und der wirtschaftlichen Nutzung, die dort in 50 bis 60 Jahren aufgebaut wurde. Er versucht trotzdem eine positive Perspektive zu zeigen: Immerhin gibt es im Tourismus eine Wiederentdeckung der Langsamkeit, ein Revival der Nähe, eine Hinwendung zu Natur und Ursprünglichkeit. Dafür braucht es intakte Landschaft – immerhin kommen die Leute seit 150 Jahren vor allem wegen deren Schönheit in die Berge.

Die Alpen in Zahlen

Rund 5000 Gletscher bedecken derzeit die Alpen. Bis 2050 könnte sich ihre Anzahl laut einiger Prognosen halbieren.

Um etwa 2°C hat sich der Alpenraum seit dem späten 19. Jh. erwärmt, ein stärkerer Anstieg als im globalen Durchschnitt.

Rund 500 Millionen Übernachtungen zählen die Alpen pro Jahr. Aber der Skitourismus wird langfristig schrumpfen.

Etwa 15 Millionen Menschen leben in den Alpen, diese zählen zu den dichtest besiedelten Berggebieten der Welt.

Seit den 1970er-Jahren hat sich das Transport- und Verkehrsaufkommen in den Alpen verdreifacht.

Steckbrief

Matthias Schickhofer ist Umweltaktivist, Naturfotograf und Autor.

Sein „Schwarzbuch Alpen“ erscheint im Verlag Brandstätter, 200 S., 22,90 €.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2017)

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