NS-Grab in Tirol: Sind Opfer verhungert?

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Nicht alle 220 Leichen auf dem Gräberfeld am Gelände des Krankenhauses von Hall dürften von NS-Euthanasie-Opfern sein. Aber mehrere Opfer wurden offenbar kurz vor Kriegsende getötet.

Wien/Innsbruck. Das Gräberfeld mutmaßlicher NS-Opfer am Gelände des Krankenhauses von Hall in Tirol sorgt weiter für Aufregung und Rätsel. Laut einstimmigen Aussagen von mehreren Historikern dürfte es sich bei den 220 Opfern, die bei Arbeiten für einen Neubau auf dem Gelände eines ehemaligen Spitals entdeckt wurden, nur zum Teil um Opfer von Ärzten im Zuge der NS-Euthanasie gehandelt haben.

Tirols Landeshauptmann, Günther Platter, kündigte die Einsetzung einer Expertenkommission an: „Dieses dunkle Kapitel der Geschichte muss jetzt sorgsam durchleuchtet und aufgearbeitet werden.“ Auch die damalige Vorgehensweise der Verantwortlichen müsse geklärt werden, „hier darf nichts vertuscht werden“.

Im März soll die Bergung der 220 Leichen aus dem NS-Gräberfeld beginnen. Ein wesentliches Ziel sei dabei die Identifizierung der Leichen und die Klärung der Todesursachen, kündigten Vertreter des Krankenanstaltenbetreibers Tilak und Historiker in einer Pressekonferenz am Dienstag an.

„Wir können jetzt schon davon ausgehen, dass nicht alle Toten Opfer der NS-Euthanasie sind“, erklärte Oliver Seifert, Historiker des Landeskrankenhauses. Mindestens 360 Menschen aus der Psychiatrie in Hall seien zu Tötungsanstalten gebracht worden – meist nach Hartheim in Oberösterreich. Nach der Einstellung des offiziellen NS-„Programmes“ nach Kirchenprotesten im August 1941 seien Tötungen in einzelnen Anstalten durch Vernachlässigung, Unterversorgung, Unterernährung sowie Überdosierung von Medikamenten erfolgt. Dies wird von Historikern auch in Hall vermutet, obwohl sich Seifert bei diesem Punkt nicht festlegen wollte.

„Möglicherweise wurde der Anstaltsfriedhof in Hall im Oktober 1942 angelegt, da es zu diesem Zeitpunkt Planungen gab, in Hall selbst eine Euthanasiestation einzurichten. Für die letzten Kriegsjahre ist jedenfalls ein markanter Anstieg der Sterbefälle in der Haller Anstalt festzustellen“, erklärte der stellvertretende ärztliche Direktor des LKH-Hall, Christian Haring. Allein im März 1945 seien über 30 Patienten gestorben.

Angehörige ausforschen

Von dem Friedhof habe man gewusst, ihn aber nicht in Verbindung mit der NS-Zeit gebracht, sagte Haring. Erst als ein Gräberverzeichnis gefunden wurde, wurde der Zusammenhang klar. Das Verzeichnis enthalte Informationen, die den Verdacht nahelegen würden, dass auf dem Friedhof auch Opfer der NS-Euthanasieprogramme bestattet worden seien.

Nach der Identifikation der Leichen wollen die Verantwortlichen Angehörige ausforschen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2011)

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