Experte: „Türkische Vereine sind langfristig Integrationsbremsen“

Interview. Die Türkei muss in Sachen Vereinnahmung der Auslandstürken noch einen selbstkritischen Reinigungsprozess durchlaufen, sagt Migrationsexperte Heinz Fassmann. von ERICH KOCINA

Die Presse: Laut einer GFK-Studie fühlen sich 70 Prozent der Türken in Österreich eher der Türkei als Österreich zugehörig. Woher kommt das?

Heinz Fassmann: Die Türkei ist Nachfolgestaat des osmanischen Reichs. Sehr spät wurde erst der Nationalstaat gegründet. Und Staatsgründer Kemal Atatürk hat auf einen gewissen Nationalismus gesetzt. Was andere europäische Staaten schon im 19.Jahrhundert hatten, hat die Türkei erst im 20.Jahrhundert entwickelt. Die Türkei ist bis heute nicht ethnisch homogen – der Nationalismus hat versucht, eine staatliche Klammer zu sein für all die Türken, Kurden, Aleviten. Das wirkt sicher noch nach und bringt ein gewisses Selbstbewusstsein. Außerdem gibt es auch Effekte der sozioökonomischen Situation der Türken in Österreich und Deutschland. Die haben wir nicht mit offenen Armen empfangen. Ist das dann nicht eine Gegenreaktion? Ihr wollt uns nicht, daher wenden wir uns unserem Herkunftsstaat zu.

Eine starke Bindung zum alten Heimatland kann man auch als Ausdruck der Integrationsverweigerung verstehen.

Von einer persönlichen Integrationsverweigerung würde ich nicht sprechen. Es mag eine Folge nicht so gut gelungener Integrationsprozesse sein. Aber da ist die Schuldfrage geteilt. Integration heißt Platz nehmen in der Gesellschaft, aber die aufnehmende Gesellschaft muss auch Platz machen.

Ein Teil der Schuld liegt bei der österreichischen Gesellschaft?

Den Begriff Schuld finde ich deplatziert, weil das immer eine vorsätzliche Aktion im Hintergrund hat. Es ist eher ein dialektischer Prozess von ein bisschen anders sein und anders bewertet werden.

Von türkischer Seite wird ihnen aber auch immer das Gefühl gegeben, dass sie noch Türken sind.

Die türkischen offiziellen Vertreter müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass Migranten in einem anderen Land leben. Man muss sie auch auslassen. Das scheint noch nicht zu funktionieren, wenn man etwa sieht, wie sie mit Zahlen umgehen. Von den 200.000 Türken in Österreich haben 130.000 die österreichische Staatsbürgerschaft. Wenn der Botschafter oder der Präsident nun davon spricht, dass sie sich um 200.000 Türken kümmern, impliziert das, dass sie alle, auch die Eingebürgerten, immer noch zur türkischen Nation gehören.

Da stecken ja womöglich auch hegemoniale Gedanken dahinter.

So weit geht es nicht. Es ist die Definition von Nation über völkische Abstammung. Da darf man aber nicht nur die Türkei kritisieren. Ungarn hat ja auch ein Ministerium für die Auslandsungarn. Die Deutschen definieren einen Deutschen als den, der deutschen Ursprungs ist. Europa ist voll von diesem völkischen Verständnis, da ist die Türkei keine Ausnahme.

Aber die Türkei betreut ihre Diaspora im Vergleich dazu doch besonders sorgsam.

Weil die Türkei diesen selbstkritischen Reinigungsprozess, wie weit Nationalismus gehen darf, noch nicht durchgemacht hat. Wir haben das nach dem Zweiten Weltkrieg sehr viel stärker abgelegt. Aber auch Österreich hat eine Betreuung der Auslandsösterreicher, auch wenn sie eine andere Staatsbürgerschaft angenommen haben. Deutschland vielleicht noch ein bisschen stärker mit den Goethe-Instituten und der Kulturarbeit. Und Israel wäre natürlich noch so ein ähnlicher Fall.

Dass eine Migrantengruppe einen Repräsentanten ihrer alten Heimat als „unseren Präsidenten“ bezeichnet, ist dann aber doch eher selten.

Auch der polnische Papst hat viele Jubelempfänge von polnischen Migranten erfahren. Dort läuft das dann halt nicht über Nationalismus, sondern über den Glauben ab.

Viele Vereine sind ja die verlängerten Arme der Türkei, etwa die Atib, die dem Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet) untersteht.

Diese Vereine helfen in einer ersten Zuwanderungsphase mit Information, vielleicht einer Wohnung, dem Gewähren von sozialer Wärme. Aber sie sind natürlich langfristige Integrationsbremsen. Denn diese Organisationen wollen überleben. Wenn ihre Klientel abgleitet, weil sie sich als Österreicher fühlt, ist das für die Institution schlecht. Institutionen, die sich durch ethnische Gemeinsamkeit definieren, haben das Interesse, diese Gemeinsamkeit zu halten. Auf der anderen Seite darf man die Vereine aber auch nicht überschätzen. Wenn Sie in der Community fragen, wer welche Vereine kennt, wären Sie überrascht, wie gering die Bekanntheit oft ist.

Langfristig gedacht: Wird diese Heimatbindung zur Türkei weiter so stark bleiben?

Das wird schwächer werden, aber nicht so rasch wie bei anderen Zuwanderergruppen. Wenn ich ins Jahr 2050 blicke, ist das eine Community, die vielleicht noch ihre nationalen Wurzeln pflegen wird, über Fest und Folkloreveranstaltungen. Aber was man bei der Türkei noch dazusagen muss: Es gibt durch die Familienzusammenführung immer wieder einen neuen Zuwanderungsprozess. Da kommt immer wieder eine erste Generation zu einer zweiten dazu, die dann einen Haushalt bilden. Darum dauert die Abnahme der Heimatverbundenheit bei den Türken eben länger.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2011)

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