Fall Kampusch: "Ein-Täter-These schließe ich aus"

Dr. Johann RzeszutFoto: Clemens Fabry
Dr. Johann RzeszutFoto: Clemens Fabry(c) (Fabry Clemens)
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Ex-OGH-Präsident Johann Rzeszut, zuletzt Mitglied der Evaluierungskommission im Fall Natascha Kampusch, schließt die offizielle Ein-Täter-These im „Presse“-Interview aus.

Herr Präsident Rzeszut, in Innsbruck lief ein Verfahren wegen des Verdachts des Amtsmissbrauchs gegen fünf, teils leitende Staatsanwälte, die im Entführungsfall Kampusch tätig waren. Offenbar steht das Verfahren vor der Einstellung. Ihre Bewertung?

Johann Rzeszut: Ich halte eine Einstellung nach Lage des Falles für nicht vertretbar. Schon der Gang der Ermittlungen zum Entführungsfall Kampusch war fachlich nicht nachvollziehbar. Alle Ermittlungsschritte trugen die Überschrift „exklusiver Opferschutz für Natascha Kampusch". Das Ermittlungsverfahren trägt in auffallender Weise den Interessen der Rechtsvertretung der Frau Kampusch, der Anwaltskanzlei Lansky/Ganzger, Rechnung und vernachlässigt dabei gänzlich, dass auch die Zeugin I. A. (jene damals zwölfjährige Schülerin, die angab, am 2. März 1998 zwei Entführer gesehen zu haben, Anm.) aufgrund der Nachwirkungen belastet war und ist - auch gesundheitlich. Wenn von A. über Jahre bekräftigt wird, dass an der Tat zwei Täter beteiligt waren, dann sieht pflichtgemäßes staatsanwaltschaftliches Verständnis so aus: Es besteht der massive Verdacht, dass ein zweiter Täter mit all seinem Gefährdungspotenzial unbehelligt in Freiheit ist. Dies entspricht auch dem Opferschutz - auch weil der zweite Täter nach wie vor auf Kampusch oder auch auf potenzielle andere Opfer Einfluss nehmen kann.

Abgesehen von einem solchen Naheverhältnis - wie erklärt sich eine mögliche, im Raum stehende Verfahrenseinstellung?

Es ist ja für die Justiz nicht rühmlich, wenn der wichtigste operative Verantwortungsträger aus dem staatsanwaltlichen Bereich strafrechtlich verfolgt wird (der Leiter der Oberstaatsanwaltschaft Wien, Werner Pleischl, weist sämtliche Vorwürfe entschieden zurück, Anm.). Das ist eine Optik, die man im Interesse des staatsanwaltschaftlichen Verantwortungsbereichs tunlichst vermeiden will. Auch mir liegt es fern, den Funktionsbereich Staatsanwaltschaft pauschal zu problematisieren. Mir geht es aber um das individuelle Funktionsverständnis einzelner Vertreter. Und das war in diesem Fall indiskutabel.

Welche Versäumnisse gab es bei den Kampusch-Ermittlungen?

Das fortgesetzt völlige und unerklärliche Übergehen der einzigen unbeteiligten Tatzeugin A. Diese bestätigte mehrfach vor der Polizei, dass beim Zugriff auf Kampusch zwei Täter beteiligt waren: einer als Wagenlenker, ein anderer, der Hand angelegt hat. A. bekräftigte ausnahmslos, beide Täter gleichzeitig gesehen zu haben. Der Vorwurf an die Staatsanwaltschaft: Sie hat in Kenntnis, dass es diese Tatzeugin gibt, über deren Angaben hinweg das Verfahren im November 2006 ohne jede justizielle Prüfung eingestellt. Also ohne justizielle Einvernahme, ohne Gegenüberstellung der Zeugin mit Kampusch. Dann kamen neue Ermittlungen und die Zeugin wurde von der Justiz wieder nicht einvernommen, obwohl von Anfang an eine Gegenüberstellung mit Kampusch indiziert war.

Aber es gab doch eine Gegenüberstellung?

Lediglich eine ansatzweise polizeiliche „Kontakt-Farce" und diese erst Anfang Dezember 2009. Suggestiver kann man einer Zeugin - noch dazu mit aktenwidrigen Vorhalten - eine gewünschte, dem Einstellungsvorhaben förderliche Gesprächsreaktion nicht nahelegen. Am Schluss stand das Statement: „Ich will die Frau Kampusch nicht der Lüge zeihen, wenn es nur einen Täter gab, kann ich wieder ruhig schlafen." A. erfuhr erstmals staatsanwaltschaftliche Beachtung im Ermittlungsverfahren gegen Pleischl und andere Staatsanwälte. Vor dem Landesgericht Innsbruck, wo die gerichtliche Vernehmung dieser Zeugin beantragt wurde.

Was lief noch falsch?

Die Staatsanwaltschaft ordnete im September 2006, kurz nach dem Ende von Kampuschs Abgängigkeit, die Rufdatenrückerfassung sichergestellter Mobiltelefone an. Darunter war ein Handy von Ernst H., dem Freund von Wolfgang Priklopil (Entführer Priklopil schied kurz nach der Kampusch-Flucht aus dem Leben, Anm.). Um die dabei ermittelten Daten hat sich die Staatsanwaltschaft überhaupt nicht gekümmert. Diese hat erst die Evaluierungskommission nach ihrer Konstituierung im Februar 2008 mit polizeilicher Hilfe ausgewertet. Dabei fielen massiv aufklärungsbedürftige Zusammenhänge auf. Es gab Aktiv- und Passivgespräche zwischen Ernst H. und einem Teilnehmer, der als „Be Kind Slow" am Handy des Ernst H. gespeichert war. Gleich nach diesen Gesprächen telefonierte H. jeweils mit der Geschäftsführerin eines Sex-Shops, mit E. G. Das begründete einen speziellen Verdacht: Die Kampusch-Entführung begann als Zugriff auf ein unmündiges Kind, ohne Lösegeldforderung. So gesehen war vorweg Sexualbezug anzunehmen. Und dieser Sexualbezug war dann auch durch diese Rufdatenrückerfassung indiziert. Die Datenauswertung ergab den Milizoffizier B. als jenen Teilnehmer, der unter „Be Kind Slow" gespeichert war. Darum hat sich die Staatsanwaltschaft weder vor der Verfahrenseinstellung 2006 noch nach dem ausdrücklichen Hinweis bei einem am 30. April 2008 veranlassten Kontaktgespräch gekümmert. Bei dieser Strategiebesprechung der Evaluierungskommission mit staatsanwaltschaftlichen Vertretern unter Führung von Pleischl wurde von Letzterem ausdrücklich die formlose Wiederaufnahme der damals bereits eingestellten Ermittlungen und die Bildung eines Teams aus Staatsanwälten und Vertretern des Bundeskriminalamts zugesichert. Und auch ein entsprechender Bericht an das Justizministerium wurde damals zugesichert. Tatsächlich ging später ein Bericht der Staatsanwaltschaft an das Ministerium, dass es nichts mehr zu ermitteln gäbe.

Dann wurde aber weiter ermittelt . . .

Nach einem halben Jahr und Interventionen der Innen- und der Justizministerin wurden die Ermittlungen mit einem denkbar vagen „Erkundigungs"-Auftrag" der Staatsanwaltschaft im November 2008 formlos wieder aufgenommen. Die drei Verdächtigen wurden erst im Herbst 2009 und zwar ausschließlich polizeilich vernommen. Mit der Besonderheit, dass die Ermittlungen gegen den Milizoffizier B. am 10. September 2009 eingestellt wurden, obwohl seine erstmalige Vernehmung erst für 8. Oktober 2009 anberaumt war. Staatsanwaltschaftlich gab man sich mit den Behauptungen von Ernst H. und B. zufrieden. Diese sagten einfach, sie würden einander nicht kennen. H. verwies auf die Möglichkeit, sein Handy gelegentlich verborgt zu haben, wobei es zu einer Speicherung von B. durch einen Dritten gekommen sein könnte.

Welche Erklärung gibt es für die geheimnisvolle Abkürzung "Be Kind Slow"?

Statt solche absurden Angaben zu hinterfragen, wurde von staatsanwaltschaftlicher Seite kein Anlass zu eigenständigen Vernehmungen (allein die Polizei führte Vernehmungen durch, Anm.) gesehen. Stattdessen exponierten sich Pleischl und Mühlbacher (Thomas Mühlbacher wurde als Kampusch-Sonderermittler von der Staatsanwaltschaft Graz nach Wien zugeteilt, Anm.) mit einer entlastenden Variante: Es wäre die Gattin des Milizoffiziers B. gewesen, die sich auf Wohnungssuche für ein Kindermädchen aus der Slowakei für eine von Ernst H. in Wien, in der Bergsteiggasse, inserierte Wohnung interessiert hätte. So soll es zu der im Handy des Ernst H. gespeicherten Abkürzung „Be Kind Slow" gekommen sein.

Gibt es weitere fragwürdige Punkte?

H. gab an, Priklopil habe nach der Kampusch-Flucht einen Abschiedsbrief an seine Mutter mit dem Schriftzug „Mama" begonnen, dann aber abgebrochen und H. um die Weiterleitung an die Mutter ersucht. Laut grafologischem Gutachten vom 18. November 2009 - dieses wurde durch ein auffällig zeitnah veranlasstes Ergänzungsgutachten lediglich ansatzweise relativiert - liegen überwiegende Anhaltspunkte dafür vor, dass das Wort „Mama" von Ernst H. und nicht von Priklopil geschrieben wurde. So wäre es in Verbindung mit anderen Ermittlungsergebnissen geboten gewesen, das Ableben von Priklopil auf justizieller Ebene auch in Richtung Ermordung zu prüfen.

Wenn es tatsächlich zu Einstellungen kommt, ist dann die Sache endgültig erledigt?

Für die Staatsanwälte sicher, wenn nicht einem möglichen Fortführungsantrag stattgegeben werden sollte. Für die Justiz, insbesondere für die oberste Weisungsspitze, Justizministerin Beatrix Karl, wäre die Sache sicher nicht erledigt. Diese wird sich darauf einstellen müssen, dass eine Einstellung des Verfahrens im Rahmen der Ministerverantwortlichkeit im Parlament „röntgenisiert" wird. Nach den mir einsichtigen fachlichen Grundlagen kann dies zur politischen Überlebensfrage werden.

Soll Natascha Kampusch noch einmal einvernommen werden?

Solange sie auf ihre aktuelle Beratung hört, wird sie bei ihrer Variante bleiben. Ich gönne ihr, in Ruhe gelassen zu werden. Aber ich gönne die Ruhe nicht einem zweiten Täter.

Rechnen Sie mit Ermittlungen gegen sich selbst?

Das wäre zwar nicht sinnvoll, weil ich belege, was ich sage. Rein rechtlich gibt es jedoch denk-logisch nur zwei Varianten: Anklage gegen Staatsanwälte wegen Amtsmissbrauchs oder strafrechtliche Verfolgung meiner Person wegen falscher Beweisaussage und Verleumdung.

Und wenn die Ein-Täter-These doch stimmt?

Diese Möglichkeit schließe ich aus.

Warum tun Sie sich das alles an?

Ich bin das nicht nur der Sache schuldig, sondern auch dem früheren Verfassungsgerichtshofpräsidenten Ludwig Adamovich (Exleiter der Kampusch-Kommission, der auf Betreiben von Brigitta Sirny, der Mutter von Natascha Kampusch, wegen übler Nachrede angeklagt und erst in zweiter Instanz freigesprochen wurde, Anm.) und vor allem auch dem Polizeioberst Franz Kröll. Er war als Mensch und Kollege ein Vorbild (der polizeiliche Chefermittler im Fall Natascha Kampusch, Oberst Franz Kröll, schied im Juni 2010 aus dem Leben, Anm.).

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