Bernhard Heinzlmaier: "Jugend steuert kollektiv auf Burn-out zu"

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Symbolbild(c) FABRY Clemens
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Jugendforscher Heinzlmaier sieht für Protestbewegungen in Österreich kein Potenzial. Dass sich Jugendliche heute weniger für Politik interessieren und sich nicht so leicht vereinnahmen lassen, sei auch positiv.

Die Presse: Ihr Institut für Jugendkulturforschung feiert im heurigen Jahr sein zehnjähriges Bestehen: Wie hat sich das Leben der Jugendlichen in diesen zehn Jahren verändert?

Bernhard Heinzlmaier: Sie denken heute mehr als je zuvor in Kategorien des Marktes. Die Jugend sieht sich selbst als Ware und versucht, einen möglichst hohen Tauschwert für diese Ware auf dem Markt zu erzielen. Früher war die Jugend idealistisch und hat versucht, sich gegenkulturell und gegen die Elterngeneration zu positionieren und eine höhere Moral einzufordern. Das ist heute vorbei. Heute hat man eine Jugend, die sehr systemkonform agiert, pünktlich, höflich und konzentriert ist. Die fordern niemanden mehr heraus, die empören niemanden mehr.

Wann kommt die nächste revolutionäre Generation?

Dazu müsste es einen ökonomischen Totalzusammenbruch geben. Solange die ökonomische Basis der Gesellschaft funktioniert, werden die Jugendlichen so kalkuliert und rational vorgehen wie bisher.

Aber gerade heuer haben wir viele junge Menschen auf den Straßen protestieren gesehen, vom Arabischen Frühling bis zu „Occupy Wall Street“. Müssen Sie das Bild der politisch inaktiven und anti-revolutionären Jugend nicht revidieren?

Überhaupt nicht. Man kann die Bewegung im arabischen Raum nicht mit Europa vergleichen. In Ägypten waren die Aufstände von einer existenziellen Not getragen, davon sind wir in Europa ja weit entfernt.

Es hat aber auch in Europa zahlreiche Proteste junger Menschen gegeben.

Das sind „Flashlights“. Da gehen die Intelligenz und die Jugend aus den oberen Schichten auf die Straße, weil die Mieten zu hoch sind oder sie keinen Job finden. Da geht es um die eigenen Interessen, sie stellen aber nicht das System an sich infrage. Wenn man das ein bisschen repariert, ist es wieder gut. Die tauchen auf und verschwinden auch schnell wieder.

Werden in Österreich, wo auch Sparmaßnahmen bevorstehen, die Jungen auf die Straße gehen?

Da zeichnet sich nichts ab. Von gewalttätigen Protesten kann schon gar keine Rede sein. Größere Bewegungen hat es in Österreich sowieso nie gegeben. Bei den Friedensbewegungen früher ist man halt einmal im Jahr bei schönem Wetter aufmarschiert. Dann gibt es von der Gewerkschaft organisierte Bewegungen gegen den Sozialabbau, die aber auch nicht aus der Zivilgesellschaft herauskommen. Wenn es bei uns zu Einschnitten kommt, werden das die Leute eher hinnehmen. Auch die Uni-Proteste im Jahr 2009 waren ein einmaliges Aufflackern. Es hat sich nichts geändert, und die Leute machen brav weiter. Das ist eine relativ friedliche, pragmatische, sehr ichbezogene Jugend, die nicht dazu tendiert, sich gesellschaftlich oder politisch zu engagieren.

Sind sie wirklich so desinteressiert an der Politik? Der Großteil geht ja zu den Wahlen.

Sie haben ein abgeklärtes Verhältnis zur Politik. Das basiert aber nicht nur auf Fehlern der Politiker. Politik emotionalisiert nicht mehr. Die Jugendlichen sind heute schwerer zu instrumentalisieren, und das ist ja eigentlich super. Und es zeigt auch, dass das Gemeinwesen funktioniert, man seine individuellen Interessen durchsetzen kann und ein relativer Wohlstand herrscht. Insofern ist das Desinteresse an der Politik nicht so dramatisch. Dass die Parteien dadurch ein bisschen ein Nachwuchsproblem haben, wird man auch verkraften. Politik ist nur noch im Zusammenhang mit Wahlen interessant.

In Ihren Studien werden die Jugendlichen als karrierebewusst und leistungsorientiert beschrieben. Ist das eine Generation, die kollektiv auf ein Burn-out zusteuert?

Das scheint mir das größte Problem in nächster Zeit zu sein, das uns noch sehr beschäftigen wird. Diese rationale Bewirtschaftung der Lebenszeit der jungen Menschen, die Intensivierung der Arbeit, der Druck: Wir halten diese Leistungs- und Erfolgsgesellschaft nicht aus. Von den heutigen Jugendlichen werden deutlich mehr von Depression und Burn-out betroffen sein als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Wir haben heute Vierjährige, die einen Englischsprachkurs machen, die Anforderungen steigern sich von Jahr zu Jahr. Man hat keine freie Minute mehr für sich selbst.

Wie kompensieren sie diesen Druck? Durch exzessives Freizeitverhalten?

Sie können ihn gar nicht kompensieren, weil sie gar nicht mehr genügend Freizeit haben. Und wenn, dann wollen sie ein ganz intensives Freizeiterlebnis haben. Die Freizeit läuft nach dem selben Prinzip wie Schule und Arbeit: Sie ist an Normen und Regeln geknüpft. Da gibt es ein bestimmtes cooles Verhalten, das man haben muss, bestimmte Kleidung, man muss nach bestimmten ästhetischen Normen funktionieren.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Ganztagsschule, die wohl noch weniger frei verfügbare Zeit bedeutet?

Skeptisch. Weil sie das Leben noch mehr institutionalisiert. Für das Aufwachsen junger Menschen ist es wichtig, dass sie Freiräume haben und sich die Welt frei aneignen können, ohne pädagogische Begleitung. Die Ganztagsschule hat keinen pädagogischen Wert, sondern einen ökonomischen Hintergrund: Man braucht in Zeiten der hohen Beschäftigung einfach eine Betreuung für die Kinder. Da wird eine wirtschaftliche Notwendigkeit mit einer pädagogischen Wohltat bemäntelt. Man wird diesen kleine Seelen aber keine Wohltat damit tun. Wer das glaubt, geht der Ideologie des Systems auf den Leim.

Die Neue Mittelschule wiederum wird von den Befürworten als Mittel gesehen, um die soziale Durchmischung der Gesellschaft zu erreichen.

Das glaube ich überhaupt nicht. Was sich gesellschaftlich nicht durchmischt, das kann man nicht in Institutionen unter Druck zusammenzwingen. Die Mittelschichten werden versuchen, diesen Schulen mit ihren Kindern zu entkommen, und auf Privatschulen ausweichen. Und die bildungsfernen Schichten sind auch nicht glücklich, wenn sie mit den Gymnasiasten der Josefstadt zusammen sein müssen. Das sind sozialutopistische Illusionen, die man sich da macht. Es gibt unterschiedliche soziokulturelle Milieus, und die bleiben auch in einer gemeinsamen Klasse unter sich. In ihrer Freizeit leben diese Menschen ja auch nicht zusammen. Die Türken bleiben unter sich, ebenso die Kroaten. Auch die österreichische Unterschicht bleibt unter sich. Auf der anderen Seite des Gürtels wohnt die Mittelschicht, und alle wollen nichts miteinander zu tun haben.

Was spricht für die Neue Mittelschule?

Die Migranten würden wohl profitieren, weil sie mehr lernen und sich besser entwickeln würden. Das ist aber auch schon der einzige Vorteil. Insgesamt ist der Istzustand an den Schulen besser als eine Gesamtschule.

Zur Person

Bernhard Heinzlmaier (51) ist seit 1988 in der Jugendforschung tätig. Er ist Mitbegründer und Vorsitzender des Wiener „Instituts für Jugendkulturforschung“, das im heurigen Jahr sein 10-jähriges Bestehen gefeiert hat. 2003 gründete Heinzlmaier zudem die Trend-agentur „tfactory“ mit Sitzen in Hamburg und Wien, die auf Marktforschung für Jugendliche und junge Erwachsene spezialisiert ist. [Reither]

WEITERE INFORMATIONEN UNTER

www.jugendkultur.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.12.2011)

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