Verlassene Täler: Wo Österreich ausstirbt

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oesterreich ausstirbt(c) Norbert Rief
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Immer mehr Menschen ziehen vom Land in die Stadt. Das Bschlabertal in Tirol zählt 120 Einwohner. 2030 werden hier nur noch 83 Menschen wohnen, 48 davon älter als 65 Jahre. Über das langsame Sterben eines Tals.

Rosi Lechleitner steht ganz oben auf dem steilen Hügel, dort, wo man das Heu nicht mehr mit Maschinen herunterbringt, stützt sich schwer auf den Holzrechen und zeigt hinunter ins Dorf. „Da wohnt eine alte Frau, da wohnt eine Familie, das Haus steht leer, das Haus steht leer, da wohnt ein alter Mann, das steht leer, das steht leer, das steht leer . . .“ Am Ende sind es acht Häuser, die leer stehen. Acht von 17. „In ein paar Jahren“, sagt Rosi, „werden nur noch alte Leut' hier wohnen. Und irgendwann sterben die weg. Dann . . .“ Sie zuckt mit den Schultern, dreht sich um und beginnt wieder, das Heu hinunter ins Tal zu rechen. Sie muss den Satz nicht vollenden. Dann werden 17 von 17 Häusern leer stehen.

Würde Disneyworld eine Welt für ein wildromantisches Alpenmärchen bauen, sie würde wohl aussehen wie das Bschlabertal. Links und rechts ragen Berge hoch hinauf, tief unten im Tal plätschert ein Bach, in der Höhe liegt noch Schnee, auf den Hängen stehen Bauernhäuser aus dem 14., 15. Jahrhundert, gebaut aus dicken Holzbalken, die über die Jahre dunkel und rissig geworden sind. Sehr viel schöner als hier in einem Seitental des Tiroler Lechtals wird Österreich nicht mehr.

Ein Traum für einen ruhigen Urlaub, aber für viele Einheimische ein Albtraum, wenn sie in der einzigen Gemeinde Pfafflar oder ihren Weilern Boden und Bschlabs leben müssen. „Wennst einkaufen gehst, musst zehn Kilometer weit einen Pass hinterunterfahren. Im Winter, wennst ins Kino willst und das Joch gesperrt ist, fahrst a Stund'. Und Arbeit gibts hier keine, da muasst 30 Kilometer weit nach Reutte.“ Das Mädchen, das seinen Namen nicht nennen will, hat in ihrem jungen Leben nur ein Ziel: „I will weg von hier.“

Damit ist sie nicht allein. Viele sind über die Jahrzehnte weggezogen, derzeit leben 120 Menschen in dem etwa neun Kilometer langen Tal, rechnet man die Saisonarbeiter dazu, sind es 131. In Tirol hat sich die Zahl der Einwohner seit 1900 verdreifacht, im Bezirk Reutte fast verdoppelt, im Bschlabertal hat sie sich halbiert. Weil die Jungen wegziehen, bleiben die Kinder aus und das führt zu einer Überalterung. Bernd Huber hat es ausgerechnet: „Im Jahr 2030 werden noch 83 Menschen hier leben. 48 werden älter als 65 Jahre sein, und jünger als 25 werden nur noch acht sein. Und das ist eine optimistische Annahme.“


Vier Kinder in der Schule. Bernd Huber ist Bürgermeister von Pfafflar und hat sich in einer Fallstudie für einen Führungskräftelehrgang mit der „Entsiedlungsproblematik der Seitentalgemeinden“ befasst. Damals war er jung, erst seit wenigen Jahren Bürgermeister – als er vor acht Jahren gewählt wurde, war er gerade einmal 23 Jahre alt – und voller Tatendrang. Mit dem Projekt „mein Pfafflar“ wollte er in vier Arbeitsgruppen das Problem seiner langsam aussterbenden Gemeinde angehen, ein neues Leitbild entwickeln und Ideen finden, wie man das Tal jung und attraktiv halten kann.

Was daraus geworden ist? „Das ist eingeschlafen“, sagt Huber resignierend. Auch aus mangelndem Interesse der Bewohner, vielleicht ist es auch schon zu spät. Ein Grund dafür ist die Straße hinauf in die 1300 Meter hoch gelegene Ortschaft. „Die hat man erst vor 15 Jahren ausgebaut.“ Bevor man die Tunnel und Lawinensperren errichtete, musste die Straße in den strengen Wintermonaten im Bschlabertal immer wieder gesperrt werden. 30, 40 Tage waren keine Seltenheit. „Das akzeptiert kein Arbeitgeber, da musst Urlaub nehmen.“ Oder man fährt mit dem Allrad einfach an der Sperre vorbei und riskiert, unter eine Lawine zu kommen.

Oder man zieht eben den steilen Pass hinunter ins Lechtal. „Viele in meiner Generation“ – Huber ist 31 – „sind in den 1980er-, 1990er-Jahren weggezogen.” Damit fehlen die, die jetzt eine Familie gründen würden. Die Konsequenz sieht man in der Volksschule, die in Bschlabs in einem alten Haus oberhalb des Gasthauses „Zur Gemütlichkeit“ untergebracht ist. Vier Kinder im Alter von sechs bis acht Jahren, die sich auf drei Klassen aufteilen, sitzen hier in einem Zimmer. Zwei sind von der Lehrerin. Die Zukunft von Pfafflar heißt Marcel, Elias, Lisa und Manuel.

„In zwei Jahren werden sie die Schule zusperren“, sagt Lehrerin Evelyn Friedl. Dann wechseln nämlich die zwei Drittklässler in die Hauptschule hinunter ins Tal und werden dort zu den besten Schülern gehören. Weil „des ist ja wie a Privatschul'“, sagt man in der „Gemütlichkeit“ nicht ohne Stolz. Einer der Vorteile einer kleinen Einwohnerzahl.

Friedl lebt seit 1995 im Bschlabertal. Sie arbeitete in einem Gasthaus in Pfafflar und lernte dort ihren späteren Mann kennen („die meisten Frauen sind nicht von hier“). Aufgewachsen ist sie in Imst, in einer Stadt mit 9500 Einwohnern. Deswegen gefällt es ihr hier auch: „Man kennt sich, ist nicht anonym, alles, was man braucht, ist eine halbe Autostunde entfernt. Ich möcht nirgendwo anders leben.“ In ein paar Jahren wird sich das vielleicht ändern, wenn die 38-Jährige für eine Lehrerstelle irgendwo im Bezirk eingeteilt wird und jeden Tag über den Pass hinunterfahren muss.

Das Ende der Volksschule wird auch das gesellschaftliche Leben von Pfafflar verändern. „Wir haben immer wieder Messen in der Kirche gestaltet, es gibt Faschingsfeiern, Muttertagsfeiern – das wird alles fehlen.“ Das Vereinsleben leidet ohnehin schon unter der schwindenden Einwohnerzahl – 2003 löste man deswegen die Musikkapelle auf – und teilweise unter Streitereien. Denn eine große, liebe Familie sind die 120 Einwohner nicht. „Da gibt's schon Auseinandersetzungen“, berichtet Bürgermeister Huber. „Und wenn dann zwei Familien nimmer miteinander können, dann hast den Krieg in den Vereinen auch, dann geht dort nichts mehr und alles steht still.“ Manchmal rauft man sich wieder zusammen, manchmal auch nicht.

Und auch eine zweite Annahme wird an diesem strahlend schönen Sommertag widerlegt: Nur weil eine Ortschaft klein ist, heißt das nicht, dass es keinen Verkehr gibt. Man muss warten, wenn man die Hauptstraße überqueren will. „Komm an einem Wochenende“, sagt Klaus Perl, „da geht es zu wie auf einer Autobahn.“

Die vielen Kurven in das Tal und über das 1900 Meter hohe Hahntennjoch nach Imst ziehen hunderte Motorradfahrer an. „Der Verkehr ist ein Segen und ein Fluch.“ Für Perl mehr ein Fluch, weil er in einem alten Bauernhaus ohne schalldichte Fenster direkt neben der Straße wohnt. „Aber für die Gemeinde ist das halt wichtig, im Winter ist ja tote Hose bei uns.“ So kommt man doch noch auf eine Nächtigungszahl von etwa 13.000 (in ganz Tirol sind es 43 Millionen).

Früher waren es einmal mehr. „Da hatten wir viele, viele Belgier. Und nach der Wende kamen die ganzen Ostdeutschen“, erzählt Erich Goth, der mit Ehefrau Gabi und Walter Lechleitner die „Bergheimat“ in Boden betreibt. Vor 20 Jahren ist der 67-Jährige mit seiner Frau aus dem deutschen Heilbronn hierher gezogen, „weil uns die Gegend gefallen hat und wir keine Großstadtkinder sind“. Und weil Lechleitner jemanden für seinen Betrieb gesucht hat. Seine Tochter wollte das Unternehmen nicht übernehmen, sie lebt jetzt in Oberösterreich.


Deutsche mieten Bauernhäuser.
Damals blühte der Tourismus, allein in Boden gab es drei Gasthäuser, die „Bergheimat“ mit ihren 23 Zimmern war oft ausgebucht. Jetzt nicht mehr. „Es sind heute halt meist kurzfristige Besucher, die ein, zwei Nächte bleiben, vielleicht einmal eine Woche. Aber länger kaum noch“, sagt Goth.

Wer länger im Bschlabertal bleiben will, der mietet sich ein Haus. 100 Häuser hat die Gemeinde, 40 stehen leer. Und vor allem die alten Bauernhäuser sind bei Deutschen begehrt. Die Jungen wollen nicht darin wohnen, weil die Fenster so klein sind, dass man auch tagsüber das Licht einschalten muss und das Heizen der kalten, kaum isolierten Zimmer enorme Kosten verursacht. Selbst an diesem Sommertag sieht man aus einem Schornstein Rauch aufsteigen.

„An großen Komfort hast nicht. Wennst nur a paar Tag oder Wochen im Jahr da wohnst, geht des aber schon“, sagt Bürgermeister Huber. Vor etlichen Bauernhäusern sieht man dicke Mercedes-SUV mit deutschem Kennzeichen stehen. In Pfafflar sitzt eine Dame einsam unter einem Sonnenschirm und liest. „Es gibt nichts Schöneres, ne“, sagt sie in breitem deutschen Akzent. Die Ruhe und die Einsamkeit und die Abgeschiedenheit. Aber leben – nein, „leben möcht ich hier auf Dauer nicht“.


„Ich bleib auf jeden Fall hier“. „An die 20 Häuser sind an Deutsche vermietet“, erklärt Perl. „Dadurch kann man viele Bauernhäuser erhalten, die sonst verfallen würden.“ Die Miete ist gering, der Mieter verpflichtet sich im Gegenzug zu Instandhaltungsarbeiten. Es sind schließlich kleine Juwele, die bis zurück ins Jahr 1284 gehen, weiß Perl, der einst Jäger im Tal war und jetzt bei der Bezirkshauptmannschaft in Reutte arbeitet („Jeden Tag fahr ich 30 Kilometer in die Arbeit und 30 wieder zurück, knapp 14.000 Kilometer im Jahr“).

Christoph Lechleitner wird es bald ähnlich ergehen. Der 18-Jährige beginnt eine dreieinhalbjährige Mechatronikausbildung in Lechaschau, knapp 30 Kilometer von seinem Heimatort Boden entfernt. Aber hinunterziehen, weggehen aus Boden will er deswegen nicht. „Ich bleib auf jeden Fall hier.“ Nur im Bschlabertal kann er mit seinem Trial-Motorrad relativ ungehindert über Wald und Wiesen fahren, das Tal sei schön, die Freiheit groß und seine Freunde seien alle hier.

Langweilig sei ihm nicht. „Unter der Woche gibt es genug zu tun.“ Da muss er beispielsweise seiner Mutter Rosi beim Heuen helfen oder im Stall. Und am Wochenende „fahren wir Jungen halt gemeinsam irgendwo hin“. Nach Reutte in die Disco oder nach Imst. Fünf bis zehn seien sie immer, der jüngste 16, der älteste 28. Ein, zwei müssten den ganzen Abend auf Bier und Wein verzichten, weil man ja wieder heimfahren müsse. Aber auch das gehe, „wir wechseln uns ab“.

Christoph sitzt lässig auf seinem Trial-Motorrad, ein junger Mensch voller Selbstbewusstsein und Tatendrang. Nein, sagt er noch einmal, „ich bleibe hundertprozentig im Tal“. Nur etwas könnte das verhindern: „Die jungen Madln wollen halt schu' alle weg.“

Das war für Rosi Lechleitner nie eine Frage. „Was hätt i denn unten im Tal tun sollen?“ Als Putzfrau hätte sie arbeiten können, aber das sei nichts für sie. „Ich bin Bäuerin mit Leib und Seele, i will nix anderes tun.“ Auch wenn sie in den letzten 21 Jahren, seit sie als 31-Jährige den Hof von ihrem Vater übernommen hat, „keinen Tag hatte, an dem ich nicht in der Früh und am Abend im Stall gestanden bin“. Ihre drei Brüder und deren Frauen wollten den Hof nicht führen, einer lebt noch hier und hilft mit, die zwei anderen sind weggezogen.

Auch Walter Lechleitner (entfernt verwandt mit Rosi) würde nie wegziehen aus Boden. Er ist hier geboren, aufgewachsen und spricht mit seinen 81 Jahren mit Leidenschaft und Optimismus über „das wunderbare Leben“ im Bschlabertal. Sogar ein Buch hat er darüber geschrieben. In „Das verschworene Tal“ schildert er das Leben vor 500 Jahren, das Buch sei auch „a bissl pikant, sonst liest's ja keiner“. 24,80 Euro kostet es im Ehrenberg-Verlag, zuzüglich Versandkosten.

Man solle das Tal nicht totreden, meint Lechleitner. In den vergangenen Jahren seien in Boden beispielsweise mehr Menschen neu hergezogen als gestorben und weggezogen. Gut, es seien vor allem ältere gewesen, die jüngste Bewohnerin ist zwölf Jahre, aber man halte die Zahl der Einwohner recht konstant. „Der Fehler war, dass man nicht oder viel zu spät in die Infrastruktur investiert hat. Deswegen sind einige gegangen.“ Aber das werde sich ändern, wenn die Menschen wieder die Schönheit der Natur entdecken.

Auch Bürgermeister Bernd Huber hat einen Traum. Er träumt von Glasfaserkabeln. Die Gemeinde hat er gemeinsam mit einem Partner vor einigen Jahren mit WLAN, mit kabellosem Internet, ausgestattet. Aber das sei nicht schnell genug. „Wenn wir ein Glasfaserkabel hätten, könnte das neue Arbeitsplätze schaffen.“ Für einen Radiologen beispielsweise, der sich hier in der Natur die Röntgenbilder anschauen kann und nicht in einer Stadt sitzen muss; oder für einen Programmierer. „Es gäbe schon Möglichkeiten mit so einem Glasfaserkabel.“ Aber wer soll das finanzieren?


Sentimentales Bschlaberlied. Über dem Tal geht langsam die Sonne unter. In der „Gemütlichkeit“ treffen sich ein paar Einheimische auf ein schnelles Bier, bevor es nach dem Arbeitstag in Reutte oder im Lechtal nach Hause geht. Hier hatte vor vielen Jahren das Bschlaberlied Premiere: „Es gibt an stillen Fleck im schönen Tirol, das ist das Bschlabertal, da fühlt man sich wohl. Dort wo der Kuckuck ruft und wo der Gamsbock springt, ja dort ist Bschlabs, ganz von Bergen umringt.“

Geschrieben hat das Lied Gerhard Hackenbuchner. Er war Deutscher und hat in den 1970er-Jahren einmal Urlaub in Pfafflar gemacht. Gelebt hat er im Bschlabertal nie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2012)

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