Enosch: „Viele wollen sich mit Beschneidung freikaufen“

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Die Beschneidung sei das "am besten akzeptierte Verbrechen in der Weltgeschichte", sagt der israelische Antibeschneidungsaktivist Enosch.

Die Presse: Was halten Sie von der in Europa aufgekommenen Beschneidungsdebatte?

Jonathan Enosch: Wir waren sehr froh, dass ein deutsches Gericht den unmoralischen Vorgang der Beschneidung verurteilt, ausgerechnet ein deutsches Gericht. Das Absurde ist, dass Juden und Muslime plötzlich zu besten Freunden werden, um Hand in Hand dagegen zu kämpfen. Schade, dass sie offenbar Erfolg damit hatten.

Warum kämpfen Sie so vehement gegen die Beschneidung?

Weil sie ein Akt der Vergewaltigung ist. Sie wird einem wehrlosen Kind aufgezwungen, ohne dass es dabei ein Wort mitzureden hätte. Würde man die Buben hingegen erst mit 13 Jahren beschneiden, dann würden sich sicher viele dagegen wehren.

1999 ist ihre Organisation „Ben Shalem“ vor den Obersten Gerichtshof in Israel gezogen. Was haben Sie damit erreicht?

Die Richter entschieden grundsätzlich nicht gegen die Beschneidung, verschärften aber die Bestimmungen zum Schutz des Kindes. Kurz vorher waren in Boston sechs Kinder an Herpes gestorben, nachdem der Beschneider ihnen mit herpesinfizierten Lippen das Blut aus der Wunde saugte.

Der damalige Innenminister Elijahu Swissa von der ultraorthodoxen Schas-Partei war derart erbost über die Petitionäre, dass er dazu aufrief, sie aus dem Fenster zu werfen. Wie erklären Sie sich eine so drastische Reaktion?

Die Orthodoxen behaupten, dass die Beschneidung das Fundament des Judentums ist, der Bund mit Gott, der dem Volk der Juden sein Überleben sichert. Was viele Leute nicht wissen, ist, dass die ursprüngliche Beschneidung, so wie sie Abraham an sich selbst vornahm, viel sanfter war als heute üblich. Abraham schnitt nur die Spitze seiner Vorhaut ab. Heute ist die Prozedur weitaus grausamer und gefährlicher.

Wie viele Familien in Israel lassen ihre Kinder nicht beschneiden?

Als wir vor zwanzig Jahren anfingen, uns zu organisieren, waren es nur ein paar Dutzend Familien. Heute reden wir von zwei Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels.


Wenn die Beschneidung tatsächlich so grausam ist, müssten sich dann nicht viel mehr Menschen dagegen wehren?

Nehmen Sie willkürlich einhundert Leute heraus und fragen Sie sie, was genau bei einer Beschneidung passiert: Wie wird beschnitten, und was genau wird weggeschnitten? Sie werden es nicht wissen.

Ihr Sohn ist heute 15 Jahre alt. Leidet er darunter, nicht beschnitten zu sein?

Nein, überhaupt nicht. Sehen Sie, es kommt auch darauf an, wie das Kind damit umgeht. Es ist schließlich nicht so, dass er rote Haare hat oder abstehende Ohren. Man sieht nicht sofort, dass er nicht beschnitten ist. Aber die Kinder interessiert es auch nicht. Für sie ist wichtig, ob er ein netter Bub ist.

Haben Sie schlechte Erfahrungen mit Kinderärzten oder Lehrern gemacht?

Eigentlich nicht. Tatsache ist, dass sich ganz viele Menschen in Israel unwohl dabei fühlen, dass ihre Kinder beschnitten werden. Sie wissen, dass Sie hier einen Pakt mit dem Teufel eingehen: Sie fahren am Schabbat mit dem Auto und essen Schweinefleisch. Mit der Beschneidung wollen sie sich freikaufen. Da ist viel Heuchelei dabei.

Wie haben Ihre Eltern reagiert?

Meine Exfrau und ich sind von meiner Familie regelrecht boykottiert worden. Ich habe von jungen Eltern gehört, denen die Großeltern damit drohten, das Kind zu entführen, um es beschneiden zu lassen. Viele Familien üben Druck aus und beharren auf der Zeremonie und der Feier, bei der das Baby präsentiert wird und einen Namen bekommt.

Was sagen Sie zu dem gelegentlich vorgebrachten Argument, dass die Beschneidung gesundheitsfördernd ist?

Dass es völlig absurd ist. Da wird ein gesundes Baby genommen und ohne jede Notwendigkeit operiert. Warum? Weil die Operation künftige Krankheiten verhindert. Nach derselben Logik müssten sich Frauen ihre Brüste amputieren lassen, um nicht an Krebs zu erkranken. Das ist komplett verrückt und sadistisch. Die Beschneidung ist das am besten akzeptierte Verbrechen in der Geschichte der Welt.

Haben die Medien daran eine Mitschuld?

Zuallererst mache ich den Intellektuellen einen Vorwurf, aber auch den Medien und den Künstlern. Es gibt fast keinen Artikel oder Beitrag, der sich damit beschäftigt, keinen Roman und kein Theaterstück. Die Intellektuellen sind feige. Die Gehirnwäsche funktioniert so gut. Ein ganzes Volk ist wie benommen.

Zur Person

Jonathan Enosch, 51, ist ein israelischer Antibeschneidungsaktivist und Gründer der Initiative „Ben Shalem“, was etwa mit „intakter Sohn“ oder „vollkommener Sohn“ übersetzt werden kann. Er ist Vater eines 15-jährigen, unbeschnittenen Buben und einer Tochter und schätzt, dass etwa zwei Prozent der jüdischen Eltern in Israel ihre Söhne nicht mehr beschneiden lassen. Eine kleine, aber stetig wachsende Minderheit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.07.2012)

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