Die US-Katholiken bedienen sich in der "Cafeteria Gottes"

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Binnen 100 Jahren hat sich das Kirchenvolk fast verdoppelt. Gläubige liberaler als der Klerus.

Boston. Jeder vierte Amerikaner ist Katholik, sieben von hundert Katholiken weltweit sind Amerikaner: Die römische Kirche ist in den Vereinigten Staaten nach mehr als 200 vorwiegend protestantisch geprägten Jahren eine etablierte Größe. Im Jahr 1910 waren 16 Prozent der US-Bürger katholisch, 2010 waren es 26 Prozent.

Und die Kirche dürfte trotz der wie überall im Westen fortschreitenden Verweltlichung der Gesellschaft weiterhin wachsen. Denn während im 19. Jahrhundert die Einwanderer aus Irland und Italien den Katholizismus in der Neuen Welt stärkten, sorgen heute die Lateinamerikaner für frisches Blut. Zwar war laut der aktuellsten Erhebung des Pew Research Center im vergangenen Jahr nur jeder dritte amerikanische Katholik hispanisch. Doch 30 Prozent der rund 75,4 Millionen Katholiken in den USA sind im Ausland geboren. Im US-Kirchenvolk gibt es somit mehr als doppelt so viele Einwanderer wie in der gesamten Bevölkerung. Die hispanischen Katholiken sind jung, die Hälfte ist unter 40 Jahre.

Aktive Pfarrgemeinden

Allerdings verliert die Kirche auch viele Gläubige. Jeder zehnte erwachsene Amerikaner bezeichnet sich in einer Pew-Umfrage als „ehemaliger Katholik“. Das sind rund 30 Millionen Menschen. „Wir müssen uns fragen, wie wir diese Menschen wieder ansprechen können“, sagt Thomas Groome, Theologieprofessor am vor genau 150 Jahren von Jesuiten gegründeten Boston College, im Gespräch mit der „Presse“.

„Die Pfarrgemeinden sind hier aktiver als in Europa“, sagt Groome. „98 Prozent der katholischen Ehepaare widersprechen der Kirchenlehre in der Frage der Familienplanung, des Zölibats oder der Auswahl der Bischöfe. Meiner Ansicht nach ist das ein Zeichen für die Reife ihres Glaubens, nicht ihrer Schwäche. Sie erfreuen sich noch immer an den Sakramenten. Das ist ein fantastischer Glaube – aber er wird von der Kirchenführung miserabel repräsentiert.“

Kein Wunder: Über Jahrzehnte haben die Erzdiözesen von Los Angeles, Massachusetts, New York und Milwaukee die schweren und weitverbreiteten sexuellen Misshandlungen von Priestern an Kindern und Jugendlichen vertuscht. Bei diesem Thema legt die US-Gesellschaft noch strengere Maßstäbe an als die europäische. Die Erzdiözesen waren zu Schadenersatzzahlungen in Rekordhöhe gezwungen. Allein die Erzdiözese von Los Angeles verpflichtete sich im Jahr 2007 zu Zahlungen von insgesamt 660 Millionen Dollar an 508 mutmaßliche Opfer. In Massachusetts hatte die Kirche bereits 157 Millionen Dollar gezahlt. Die Erzdiözese von Milwaukee wurde, nachdem sie bereits rund 29 Mio. Dollar an Schmerzengeld geleistet hatte, durch eine neue Welle von Missbrauchsvorwürfen Anfang 2011 sogar dazu gezwungen, Insolvenz zu beantragen.

Carlos Eire, der Kirchengeschichte in Yale lehrt, meint: „Bei allen Themen, die für die säkularen Medien heiß sind – von der Priesterehe bis zu sexuellem Missbrauch – ist die Amtskirche auf einer anderen Wellenlänge.“ Die Gläubigen würden der Amtskirche mit einem für die Amerikaner typischen Pragmatismus gegenübertreten: „Die meisten Katholiken bedienen sich wie in einer Cafeteria: Sie wählen, was sie mögen, und ignorieren, was ihnen missfällt.“ Allerdings gebe es einen konservativen Kern, den man nicht ignorieren dürfe. „Denn die Männer, die zu Priestern geweiht werden, kommen aus diesem Kern.“ Das vertiefe die Kluft zwischen Kirchenvolk und Klerus. Eine Spaltung hält Eire indes für unwahrscheinlich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2013)

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