Muzicant: „Haben Juden in Europa Zukunft?“

Ariel Muzicant, Vizepräsident des European Jewish Congress, in seinem Büro in Wien.
Ariel Muzicant, Vizepräsident des European Jewish Congress, in seinem Büro in Wien.Die Presse
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Übergriffe auf Juden hätten dramatisch zugenommen, konstatiert Ariel Muzicant, Vizepräsident des European Jewish Congress. Er fordert die EU zum Handeln auf.

Wien/Warschau. Ariel Muzicant, der Vizepräsident des European Jewish Congress, richtete einen leidenschaftlichen Appell an die Regierungen des Kontinents, Juden besser zu schützen. Der Antisemitismus in Europa habe dramatisch zugenommen, sowohl seitens der extremen Rechten und Linken als auch in radikalen muslimischen Gruppen. Die Zahl der antisemitischen Vorfälle und Attacken habe sich verdoppelt, erklärte Muzicant jüngst bei einer Konferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Berlin.

„Wir müssen uns fragen: Haben Juden in Europa noch eine Zukunft?", erläuterte der Ehrenpräsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien gegenüber der „Presse". Juden hätten bereits begonnen, Europa zu verlassen. Nicht nur in Ungarn habe der Antisemitismus zugenommen, auch in Frankreich und Schweden, wo der Hass auf Juden vor allem unter muslimischen Extremisten grassiere. Insbesondere in Skandinavien verschlössen die Regierungen die Augen vor dem Phänomen. Aus diesem Grund löse sich allmählich die jüdische Gemeinde in Malmö auf, so Muzicant.

Kein zuverlässiges Zahlenmaterial

Wirklich zuverlässige Statistiken über antisemitische Vorfälle in Europa gibt es nicht. Das zuständige OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) sammle lediglich die Daten, die einzelne Mitgliedsländer offiziell weiterleiten, erklärt ODIHR-Sprecher Thomas Rymer. Jeder Staat wende jedoch eigene Kriterien an. Das lasse keine Vergleiche zu.

Ähnlich argumentiert Waltraud Heller, Sprecherin der in Wien ansässigen EU-Agentur für Grundrechte (FRA). Sie weist zudem auf die hohe Dunkelziffer bei antisemitischen Übergriffen hin. Nur geschätzte 20 Prozent der Vorfälle würden überhaupt bei den Behörden gemeldet. Das Zahlenmaterial ist schütter. Viele Staaten berichten überhaupt nicht. Die aktuellste Auflistung der EU-Agentur bezieht sich auf die Jahre 2010 und 2011. Daraus ergibt sich, dass die gemeldeten antisemitischen Verbrechen in Österreich, Tschechien, Deutschland, Finnland und Frankreich gesunken sind, während sie in den Niederlanden und Schweden gestiegen sind. Ungarn oder die Ukraine etwa sind dabei gar nicht angeführt.

Im Herbst will FRA die Ergebnisse einer Umfrage unter Juden in neun europäischen Staaten, darunter auch Ungarn und Deutschland, vorlegen. Darin wurde nach dem subjektiven Sicherheitsgefühl gefragt.

Muzicant forderte bei der OSZE-Konferenz in Berlin die Polizeibehörden auf, besser mit allen jüdischen Gemeinden zusammenzuarbeiten. Die Gemeinden bräuchten mehr finanzielle Unterstützung, um sich besser schützen zu können. In der Wiener IKG etwa entfielen 22 Prozent des Budgets auf Sicherheitsmaßnahmen.

EU-Gesetz gegen Verhetzung

Doch auch auf EU-Ebene will Muzicant ansetzen und fordert ein einheitliches europäisches Gesetz gegen Verhetzung. Justizministerin Beatrix Karl habe ihm bereits versprochen, eine derartige Initiative im Kreis ihrer europäischen Amtskollegen zu unterstützen.

Viertens verlangt Muzicant, dass die EU die vom Iran unterstützten libanesischen Hisbollah-Milizen auf die Terrorliste setzt. Es gebe eindeutige Beweise, dass die Gruppe in den Anschlag auf eine israelische Reisegruppe im bulgarischen Burgas verwickelt gewesen sei und auch das Attentat auf Zypern geplant habe. Bei Terror dürfe es keine Kompromisse geben. Mit ihrer Unentschlossenheit, die Hisbollah zu brandmarken, gefährdeten die europäischen Regierungen das jüdische Leben in Europa. "Worauf wollen wir warten? Bis die Hisbollah jüdische Kinder in Europa tötet?", fragte der Vizepräsident des European Jewish Congress.

Auch in Wien mehrten sich verdächtige Vorfälle, so Muzicant. Immer wieder würden Personen versuchen, jüdische Schulen oder die Synagoge auszuspionieren. Die Kooperation mit den österreichischen Behörden bezeichnete Muzicant freilich als vorbildlich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19. Juni 2013)

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