Benjamin Idriz: "Für Muslime gibt es nur einen Islam"

Benjamin Idriz
Benjamin IdrizMuslimische Gemeinde Penzberg
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Islamisches Leben im Europa des 21. Jahrhunderts müsse anders aussehen als im 7. Jahrhundert in Arabien, sagt der Imam der Moschee im bayerischen Penzberg. Den Begriff des Euro-Islam sieht er dennoch kritisch.

Beim Begriff Euro-Islam oder aufgeklärtem Islam schwingt immer mit, dass der Islam dazu säkularisiert werden muss. Teilen Sie diesen Befund?

Benjamin Idriz: Euro-Islam ist ein umstrittener Begriff, nicht nur innerhalb der muslimischen Gemeinde, auch in der Wissenschaft. Für Muslime gibt es nur einen Islam, das muss man nicht durch Adjektive qualifizieren. Alles andere als der normale Islam ist das, was Salafisten, Extremisten oder Terroristen daraus machen.

» Gibt es eine Europa-Spielart des Islam? «

Der Islam in Europa wird aber schon anders gelebt als etwa im arabischen Raum.

Islamisches Leben im Europa des 21. Jahrhunderts muss anders aussehen als im 7. Jahrhundert in Arabien. Wenn Muslime Vorstellungen wie zum Beispiel die rechtliche Ungleichheit von Mann und Frau vertreten, widerspricht das diametral der Intention und dem Geist von Koran und Sunna bezogen auf unsere Zeit und Kultur.

Sie haben gefordert, dass sich Muslime von den Ausrichtungen ihrer alten Heimatländer lösen. Wie weit muss das gehen?

Damit meine ich organisatorische Verbindungen. In den vergangenen 50 Jahren waren die Muslime abhängig von ihren Heimatländern. Das war auch berechtigt – die Muslime brauchten anfangs Hilfe aus dem Ausland. Aber die neue Generation der Muslime, die hier aufgewachsen ist, muss sich von diesen Ländern organisatorisch befreien und hier auf eigenen Beinen stehen.

Also sind Organisationen wie Atib in Österreich nicht wünschenswert?

Die sind ja sogar hier gegründet worden. Aber die Türkei hat über sie Imame geschickt und somit einen großen Beitrag für die religiöse Betreuung geleistet. Dafür sollten Österreich und Deutschland dankbar sein. Heute aber suchen junge türkischstämmige Muslime Imame, die in ihrer Sprache predigen – also Deutsch. Und die ihre Weltanschauung verstehen. Es ist klar, dass sie von hier kommen müssen.

Eine oft gestellte Forderung ist Deutsch als Verkehrssprache im muslimischen Leben. Wie ist das vereinbar damit, dass der Koran nur auf Arabisch als echt gilt?

Der Koran ist Gottes Wort und für die Kunst der Rezitation kann nur der originale Wortlaut infrage kommen. Aber Theologen haben die Inhalte immer wieder ausgelegt. Seit der Koran in andere Sprachen übersetzt wurde, ist es ihre Aufgabe, ihn auch in anderen Sprachen auszulegen. Es geht nicht darum, was wortwörtlich im Koran steht, sondern was Gott gemeint hat. Wie würde Gott im 21. Jahrhundert den Koran formulieren? Was würde er über Wirtschaft, Finanzkrisen, Sterbehilfe oder den IS sagen?

Wie sieht es mit problematischen Koranversen aus – sollten die einfach nicht mehr gelehrt werden?

Einige Dinge wurden im geschichtlichen Kontext offenbart. Einige Fragen haben heute keine Bedeutung mehr, etwa dass den Frauen des Propheten Mohammed verboten ist zu heiraten. Analog dazu: Wenn wir in Europa in Frieden leben, hat es keinen Sinn, über Krieg zu predigen. Darum sollten wir auf solche Predigten verzichten – und die betreffenden Stellen nur im historischen Kontext betrachten.

Und wenn Krieg in anderen Ländern herrscht, gelten die Stellen dann noch?

Als der Koran geschrieben wurde, war Medina eine kleine Gemeinde, die angegriffen wurde und deren Überleben bedroht war. Heute umfasst die muslimische Gemeinde mehr als eineinhalb Milliarden Menschen in über 60 Ländern. Herrscht in einem muslimischen Land eine kriegerische Situation, ist es Aufgabe des Staates, sich zu verteidigen. Aber nur der Staat hat das Recht dazu, auch islamisch gesehen.

In manchen Koranversen werden kriegerische Handlungen gerechtfertigt.

So etwas gibt es in allen Offenbarungen, auch in der Bibel. Man darf nicht einen einzelnen Vers aus dem historischen Kontext reißen und missbrauchen.

Es gibt den islamischen Rechtsbegriff vom „Haus des Islam“, der alle Gebiete unter muslimischer Herrschaft bezeichnet. Und im Gegensatz dazu das „Haus des Krieges“ für alle anderen Gebiete.

Diese Begriffe stehen nicht im Koran oder den prophetischen Aussagen. Einige Gelehrte haben sie erfunden, aber die haben im 21. Jahrhundert keine Bedeutung mehr.

Wenn mit diesen Begriffen argumentiert wird, ist das theologisch nicht haltbar?

Überhaupt nicht.

Das wissen aber offenbar nicht alle – sowohl Muslime als auch Nichtmuslime.

Die Theologen müssen jetzt mehr in der Öffentlichkeit agieren und mit solchen Auslegungen der Vergangenheit aufräumen.

Der Theologe Mouhanad Khorchide hat ja den Islam als Barmherzigkeit gedeutet.

Man kann sicher in einigen Punkten andrer Meinung sein, aber sein Buch hat in Deutschland und Österreich eine Debatte ausgelöst. Die junge Generation der Muslime hat Sehnsucht nach Theologen, die zu aktuellen Problemen Stellung beziehen. Sonst geraten sie in falsche Hände.

Aber ist das nicht eher ein elitärer Diskurs in akademischen Kreisen?

Die muslimische Basis ist offen ist für eine theologische Debatte, die sollte nicht nur auf akademischem Niveau bleiben. Die Moscheevereine sollten Khorchide und andere einladen – wie wir es in Penzberg gemacht haben.

Jetzt gilt Ihre Gemeinde als recht fortschrittlich. Viele andere werden da wohl gar kein so großes Interesse haben.

Das ist eine Tatsache. Aber die Basis verlangt von muslimischen Organisationen, mehr zu agieren, wie wir es in Penzberg machen. Die Basis ist nicht immer mit den Dachverbänden einig. Und damit diejenigen, die sich mit den bestehenden Verbänden nicht identifizieren wollen, sichtbar werden, braucht es entsprechende Angebote.

Ist das eine Generationenfrage?

Ich bin mir sicher, dass es einen Konflikt zwischen Generationen gibt. Deswegen müssen die Moscheegemeinden ihre Strukturen reformieren.

Wie viel von dem, was sich die nicht muslimische Mehrheit wünscht, müssen Muslime dabei erfüllen?

So etwas kann kontraproduktiv sein. Ich warne davor, ständig von Muslimen ein Bekenntnis zum Grundgesetz einzufordern. Es ist doch für uns genauso eine Selbstverständlichkeit wie für alle anderen, dass wir das bejahen. So wie auch den Rechtsstaat. Ständig das Gegenteil zu unterstellen, ist beleidigend und ausgrenzend.

Verstehen Sie es, wenn sich Kritik an Dingen wie Kopftuch oder Beschneidung regt?

Wir leben in einem pluralen Europa, in dem Religionsfreiheit einen Wert hat. Kopftuch und Beschneidung gehören dazu – und zwar nicht nur in einer Religion. Europa sollte bei Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Religionsfreiheit ein Vorbild sein, nicht bei Verboten und Einschränkung von Rechten.

Sie selbst haben einmal geschrieben, dass allzu fremde Kleidung die Mehrheitsgesellschaft ängstigen könnte.

Eine völlig verschleierte Frau könnte Ängste schüren, darum sollte man das vermeiden. So wie man auch in Saudiarabien keinen Minirock trägt, das würde dort ja auch für Befremden sorgen.

Wo ist die Grenze zwischen Kopftuch und Niqab – da gibt es ja viele Zwischenstufen.

Das Gesicht identifiziert das Individuum. Deswegen soll die Frau ihr Gesicht zeigen, das schafft auch Vertrauen in der Gesellschaft. Jeder muss wissen, mit wem er spricht. Das Gesicht ist ein Teil der Würde des Menschen, darum muss es gezeigt werden.

Weil man damit Vertrauen schafft oder keine Ängste weckt?

Beides. Und auch, weil die Verhüllung des Gesichts nicht theologisch begründbar ist.

Und wie weit soll man bei Moscheebauten auf Befindlichkeiten der Mehrheitsgesellschaft Rücksicht nehmen?

Wir brauchen Moscheen, die transparent und sichtbar sind. Wenn Radikalisierung überhaupt in Moscheen stattfindet, dann in Hinterhofmoscheen. Eine repräsentative Moschee nimmt Ängste und schafft Vertrauen.

Die Proteste gegen muslimische Zentren lassen etwas anderes vermuten.

Wir müssen versuchen, Wege zu finden, wie wir die Mehrheitsgesellschaft gewinnen können. Durch Dialog und Nachbarschaftspflege etwa. Im Übrigen sind islamophobe Ängste dort am stärksten, wo kaum Muslime leben.

Tun Muslime genug, um ihren Glauben mit europäischen Werten in Einklang zu halten?

In den vergangenen 50 Jahren haben sie bewiesen, dass Rechtsstaat und Grundgesetz nicht infrage gestellt werden. Auf der anderen Seite läuft viel Engagement von Muslimen ehrenamtlich ab. Das sollte institutionalisiert werden, dazu brauchen wir aber Mittel. Ohne professionelle Hilfe wird das nicht gehen.

Und diese Hilfe soll von hier kommen?

Es ist eine primäre Aufgabe des Staates, das zu unterstützen. Österreich hat hier, bedingt durch seine Geschichte, Deutschland einiges voraus.

Benjamin Idriz (geb. 1972 in Skopje) ist seit 1995 Imam der bayerischen Moscheegemeinde Penzberg und seit 2009 Vorsitzender des Vereins Münchener Forum für Islam e.V.
Veröffentlichung: „Grüß Gott, Herr Imam! Eine Religion ist angekommen“ erschien 2011 im Diederichs Verlag.

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