Analyse: Revolution im Vatikan

Kann Franziskus mit seinen tief greifenden Kirchenreformen auch den Glaubensbruch in den westlichen Gesellschaften heilen?
Kann Franziskus mit seinen tief greifenden Kirchenreformen auch den Glaubensbruch in den westlichen Gesellschaften heilen?(c) REUTERS (MAX ROSSI)
  • Drucken

Papst Franziskus hat in seiner zweieinhalbjährigen Amtszeit begonnen, die Kirche grundlegend zu verändern – die Radikalkur umfasst eine modernere Familienlehre und reicht bis zur Dezentralisierung der Kirchenstruktur. Doch vielen geht der Pontifex zu weit.

„Der katholische Freund schließt nicht aus, dass . . .“ So beginnt der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani sein neuestes Buch. Dann meditiert er voll „ungläubigen Staunens” dreihundert Seiten lang über die christliche Bilderwelt. Er, der Muslim, erschließt den Christen mit Hingabe eine Welt, die ihnen fremd geworden ist oder deren Reichtum sie nicht wahrnehmen, weil sie als Gewohnheitsseher alles zu kennen glauben. Der katholische Freund meint, in Deutschland sei der „Hype um Papst Franziskus vorbei“. Doch die Ära Franziskus, die habe doch eben erst begonnen. Da muss, nördlich der Alpen, einiges nicht vermittelt worden sein. Da sind wohl Welten verschlossen geblieben. Was müsste passieren, welche Schlagzeilen müsste Franziskus liefern, welchen Zauber veranstalten, damit alle zufrieden sind?

Der Keim einer neuen Kirche

Es stimmt bedenklich, dass 2014 so viele deutsche Katholiken aus ihrer Kirche ausgetreten sind wie noch nie. Das aber war genau die Periode des Franziskus-Hypes, die Hoch-Zeit der Hoffnung auf eine andere Kirche. Das heißt: Die Gründe für die radikale Abwendung vieler westlicher Katholiken – in Afrika und Asien weist der Trend exakt in die andere Richtung – liegen also tiefer als nur im Unbehagen an einer bestimmten Kirchenform. Wenn etwa, wie es Religionssoziologe Michael Ebertz als besonders aussagekräftig herausstreicht, die Zahl katholischer Begräbnisse in Deutschland kontinuierlich abnimmt, dann „glauben offenbar immer weniger Menschen daran, dass der christliche Glaube und die Kirche eine Heilsperspektive nach dem Tod eröffnen“. Selbst wenn Franziskus den Zölibat abschaffte, um nur eine der Reformforderungen zu nennen: Der Glaube an eine Auferstehung würde nicht wiederkehren.

Die Reformen, die Franziskus losgetreten hat, greifen tiefer. 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nimmt er dessen „Aggiornamento“-Gedanken neu auf: Die Kirche muss auf die Höhe jener Anforderungen gebracht werden, die die Zeit heute stellt, weg von der Dauerbeschäftigung mit sich selbst und hinaus zu den Menschen. Das Konzil mit seinen 2300 Bischöfen dauerte vier Jahre; Franziskus ist zweieinhalb Jahre im Amt, er macht alles allein. Vorerst. Denn auch, was gemeinschaftliche, synodale Leitungsstrukturen betrifft, pflanzte er den Keim zu einer veränderten Kirche bereits. Der Papst, der sich nach seiner Wahl als „vom Ende der Welt kommend“ vorstellte, näherte sich dem Alten Kontinent über Lampedusa. Bevor er nach Straßburg reiste, besuchte er Albanien. Den Gründonnerstag feierte er in Gefängnissen, das heilige Jahr der Barmherzigkeit leitete er im Bürgerkrieg von Zentralafrika ein.

Todeswünsche

Es sind Zeichen, die schnell wirken, die eingängig sind; der Papst weiß, dass das Publikum Nachrichten will, während die Reformen dahinter Zeit brauchen. Franziskus spielt auf vielen Ebenen gleichzeitig. Da sind die kleinen allmorgendlichen Predigten in der Kapelle des vatikanischen Gästehauses; die Reform der Kurienbürokratie; die großen Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ und „Laudato si“ mit Frontalattacken auf ein zerstörendes Wirtschaftssystem ebenso wie mit einer Erneuerung kirchlicher Seelsorge. Die Programmschriften haben einen Fehler: Sie sind zu lang, um im globalen Stimmenwirrwarr gelesen und studiert zu werden.

Die amtierenden Kardinäle und Bischöfe wurden alle in der Zeit und im Geist von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. ernannt. Franziskus baut um. Plötzlich bekommt Burma einen Sitz im Kirchensenat, mit den Straßenpriestern, die der Papst zu Bischöfen in Italien macht, bringt er die Hierarchie dermaßen gegen sich auf, dass ihm der Erzbischof von Ferrara den Tod wünscht: „Möge die Madonna mit Bergoglio dasselbe Wunder vollbringen wie mit dem anderen“, soll Luigi Negri gesagt haben – eine Anspielung auf das Schicksal des nach 33 Amtstagen gestorbenen Johannes Pauls I.

Und dann die Familiensynode im Oktober. Wer nur bestimmte Stellen liest, wird in ihrem Schlussdokument nichts davon finden, dass Pille und Kondom kirchenamtlich erlaubt wären oder wiederverheiratete Geschiedene beichten und kommunizieren dürften. Die wirklichen Revolutionen sind gut verpackt: Schon das Synodendokument, als „Vorschläge an den Papst“ gemeint, nimmt Franziskus' neuen Seelsorgeansatz voll auf: weg vom Vorschreiben und (Ver-)Urteilen hin zur einfühlsamen Begleitung der Menschen. Das schafft viel freien Raum für alle – nicht zuletzt für den Papst: Sein Lehrschreiben, das er im März vorlegen will, wird ein Meilenstein in katholischer Familienlehre und Ehemoral – bei einem Thema, über das dreißig Jahre lang in der Kirche nicht diskutiert werden durfte.

Jahrhundertelang galt: „Roma locuta, causa finita – Rom hat gesprochen, Schluss mit der Diskussion.“ Unter Franziskus gilt: „Roma locuta, causa aperta – Rom spricht, der Fall ist offen.“

Bezeichnend ist, dass erst jetzt, nach 47 Jahren, jene „Königsteiner Erklärung“ in ein römisches (Synoden-)Papier vordringen durfte, mit der die deutschen Bischöfe 1968 auf die Enzyklika „Humanae Vitae“ reagierten: Nicht die leidige Methodenfrage bei der Empfängnisverhütung, nicht Vorschriften irgendeines immer weniger einsichtigen „Naturrechts“ stehen im Mittelpunkt, sondern die auf das Beste des anderen bezogene, die verantwortete, also eigenständig getroffene Gewissensentscheidung der Ehepartner. Die Quelle dieses neuen Paragrafen wird nicht genannt; womöglich wäre die Passage bei der Schlussabstimmung durchgefallen. Klar, die Wende kommt zu spät; die Lebenswirklichkeit selbst kirchentreuester Katholiken ist ihr voraus. Aber nun ist die Wende festgeschrieben. Mit ihr wird das Gewissen als letzte Autorität der persönlichen Entscheidungsfindung rehabilitiert, nach einer Periode, in der der Vatikan disziplinarischen Gehorsam zum Glaubensgradmesser machte.

„Heilsame Dezentralisierung“

Der nächste Schritt steht auch schon bevor. Er könnte zu weit drastischeren Veränderungen führen als alles Bisherige: Der Papst lässt derzeit eine Synode über die „heilsame Dezentralisierung“ der katholischen Kirche vorbereiten. Fünfzig Jahre nach dem romzentrierten Zweiten Vatikanischen Konzil soll das „Aggiornamento“ heute der Pluralisierung der Welt Rechnung tragen – auch der Pluralität der Kirche. Es ist das heißeste Thema, das der Papst anpacken kann; auch reformfreudige Bischöfe haben Angst vor den Folgen. Im Prinzip geht es um die Frage, wie viel und wie weit Rom – auch in Lehrfragen – zentral entscheidet und wie viel Gestaltungsmacht die Bischofskonferenzen einzelner Kontinente, einzelner Staaten oder gar Bundesländer bekommen.

An einem Reizthema entlang gefragt: Darf es sein, dass Europa Ja sagt zu Homo-Partnerschaften und das katholische Afrika bei seinem Nein bleibt? Kann dann nicht Afrika den Europäern einen Verrat am Glauben vorwerfen und Europa den Afrikanern eine Verweigerung der Menschenrechte? Und wie hält dann alles als „katholische, allumfassende“ Kirche zusammen? Wird der Papst als einziger Führer einer Weltkirche und als „Garant der Einheit“ nicht zur reinen Symbolfigur, die alles treiben lassen muss, während den einzelnen Bischöfen, denen der Zentralismus bisher nicht nur Last, sondern auch Entlastung von alltäglichen Konflikten ist, unter der neuen Verantwortung zusammenbrechen?

Was treibt den Papst? Die Kirche dahin zu bringen, wo die Menschen sind. Franziskus will auch die Hindernisse, die Ärgernisse abbauen, mit denen sich diese Kirche selbst im Weg steht – und ihrem Grundauftrag: Die Botschaft der Barmherzigkeit, des Heils, der Auferstehung überall hinzubringen. Die Botschaft lautet: „Die Welt ist nicht verloren. Im Prinzip nicht.“

Auf einen Blick

Der Argentinier Jorge Bergoglio ist seit März 2013 Papst Franziskus I. Seit Beginn seiner Amtszeit hat er sich für eine Reform der Kirche eingesetzt, die er modernisieren und näher an den Menschen bringen will. Auch sozialpolitisch setzte Franziskus deutliche Zeichen: Bei seiner ersten Fernreise besuchte er auf der Mittelmeerinsel Lampedusa ein Flüchtlingslager. In seinem Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ kritisierte Franziskus mit den Worten „diese Wirtschaft tötet“ das neoliberale Wirtschaftssystem.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.12.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.