Arie Folger: "Mehr Angst vor Antisemitismus von morgen"

(c) Clemens Fabry
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Arie Folger, neuer Oberrabbiner von Wien, im Interview mit der "Presse am Sonntag" über Identität, FPÖ und den Islam.

Ihr Vorgänger hat Interviews gern mit einem Witz begonnen. Sie auch?

Arie Folger: (Lacht.) Das ist schwierig, wenn man sein Publikum noch nicht kennt. Das erinnert mich an eine amerikanische Stand-up-Komödiantin, die mit einer Hörbehinderung geboren wurde. Sie konnte nur mit den Füßen hören, also anhand der Vibration des Bodens spüren, ob die Leute lachen. Ich stehe vor einem neuen Publikum, das „wienerisch tickt“.


Sie waren zuletzt in Deutschland tätig. Gibt es Unterschiede zu Österreich?

In Deutschland gibt es viele Gemeinden, die so groß oder größer als Wien sind, aber viel weniger jüdisches Lebens bieten. In Deutschland war die Gemeinschaft bis in die Neunzigerjahre sehr klein. Die österreichischen jüdischen Alteingesessenen waren bereits viel mehr traditionell gebildet, zudem ist die Gemeinde früher gewachsen, durch die Einwanderung ehemaliger Bürger der Sowjetunion, aus Buchara und Georgien. Die Juden aus den Sowjetrepubliken waren auch viel traditioneller als jene aus Russland – weil man sie weniger an ihrer religiösen Praxis gehindert hat. Man hat sie weniger beachtet.


Ist die Wiener Gemeinde liberaler oder orthodoxer als deutsche Gemeinden?

Deutlich orthodoxer. Frankfurt, wo ich zuletzt tätig war, ist eine traditionelle Gemeinde. Sie hat zirka 7000 Mitglieder, etwas weniger als Wien. Frankfurt hat vier Synagogen. Wien hat gut 20. Das zeigt, wie aktiv Wien ist.


Sie haben gesagt, Sie kennen Ihr Publikum noch nicht, aber das gilt auch umgekehrt. Ihr Vorgänger hat sich als Moderater bezeichnet. Wie würden Sie sich selbst einordnen?

Als Leidenschaftlicher. Ich will mich gar nicht einordnen. Ich will ein Integrator sein, der die Leute zusammenbringt.


Sie wurden schon als Hardliner bezeichnet.

Habe ich gelesen. Der Journalist hatte wenig Zeit zu recherchieren und hat sich auf meinem Blog und meiner Facebookseite umgeschaut. Er hat mich als Hardliner bezeichnet, weil ich fest hinter der Legitimität von Israel als jüdischem Staat stehe. Wenn das ein Hardliner ist, dann bin ich ein Hardliner.


Sie haben Wirtschaft studiert, kennen sich in PR aus. Was haben Sie denn mit der jüdischen Gemeinschaft vor?

Es ist wichtig, über Aktivitäten zu berichten. Wir bieten eine Dienstleistung an, die Judentum heißt. Dabei konkurrieren wir um die Zeit der Gemeindemitglieder. Die können ja auch, statt Samstagmorgen die Synagoge zu besuchen, shoppen oder schlafen. Das Produkt Judentum ist ein sehr gutes, man muss es aber auch entsprechend verpacken. Als Beispiel möchte ich das Shabbos Project nennen, das wir in Wien seit drei Jahren anbieten. Da der Schabbat für uns so zentral ist, wollen wir möglichst viele Juden dazu bewegen, ihn zumindest einmal im Jahr zu erleben. Vorbild ist „Shabbat Across America“. Dafür wird dort auch in Massenmedien oder auf Bussen geworben.


Sie wünschen sich, dass alle jüdischen Kinder in jüdische Schulen gehen sollen. Was ist an nichtkonfessionellen Schulen schlecht?

Schlecht ist nicht das Wort, das ich verwenden würde. Aber es gibt einen Riesenunterschied zwischen Kindern, die auf eine jüdische Schule gehen und jenen, die das nicht tun. Nämlich in der Frage, inwieweit sie sich später als Jude identifizieren. Es ist wichtig, dass man als kleine Minderheit eine Identität entwickeln kann. Gerade in der Pubertät.


Das hieße dann: Auch muslimische Kinder sollen in muslimische Schulen gehen?

Ich glaube, es gehört zur Freiheit der Menschen, ihre Kinder in ihrer Tradition zu erziehen. Sofern die Schulen die vom Staat auferlegten Regeln einhalten, und man einen Weg findet, um trotz der starken Prägung der eigenen Identität sich als Teil der größeren Gemeinschaft zu sehen, und solange man keinen Hass gegen andere schürt, warum nicht. Aber ich gebe zu bedenken: Das braucht enorme finanzielle Investitionen. Es ist nicht Aufgabe des Staates, religiöse Zugehörigkeit so weit zu fördern.


Dass muslimische Organisationen Schulen und Kindergärten finanzieren, würde auch als problematisch gesehen werden.

Ich sehe das Problem nur, wenn man blind pädagogisches Material einführt, oder wenn man nicht darauf achtet, woher das Lehrpersonal kommt. In den Niederlanden hat man vor mehreren Jahren etwa stark antisemitisch geprägtes Lehrmaterial in arabischer Sprache entdeckt. Mittlerweile ist es dort Pflicht, den Religionsunterricht in der Landessprache zu halten.


Angeblich wurde Kindern, die im Wiener Sportklub Hakoah trainieren, geraten, aus Sicherheitsgründen ihr Logo auf der Straße nicht sichtbar zu tragen. Wie finden Sie das?

Darüber weiß ich nichts. Ob ich es gut heiße, ist eine schwierige Frage. Ich gehe überall sehr sichtbar als Jude herum. Natürlich gibt es ab und zu hasserfüllte Idioten, und es gibt Viertel, wo auch ich mich unwohl fühle, auch in Deutschland. Manchmal muss man klug sein – aber nicht zu klug. Denn wenn man sich nicht offen zeigt, machen wir das jüdische Leben kaputt. Wir sind ein bisschen so wie der Kanarienvogel in der Kohlenmine. Wenn es uns nicht gutgeht, ist das ein Zeichen, dass der öffentliche Frieden gestört ist.


Waren Sie überrascht, dass viele Juden Norbert Hofer gewählt haben sollen?

Die Wahl ist geheim, jedoch ist es vorstellbar, dass auch eine unbekannte, vermutlich geringe Anzahl von Juden ihn gewählt hat. Es gibt bei der FPÖ Rechtspopulisten und Rechtsextreme, doch das sind eben nicht alle und sicher nicht alle Wähler. Österreich ist gespalten – nicht weil die einen rechtsextrem sind und die anderen nicht, sondern in der Frage, ob man Vertrauen in die Mainstream-Parteien hat.


Es gab von der IKG eine Wahlempfehlung für Van der Bellen. Fanden Sie das gut?

Ja, weil es eine besondere Situation war. Prinzipiell stören wir die Wahlfreiheit der Mitglieder aber nicht. Die Religionsgemeinschaft wählt nicht en bloc.


Laut FPÖ gibt es vermehrt Parteieintritte von Seiten der jüdischen Community. Wie bewerten Sie das?

Ich weiß davon nichts, kann es mir aber vorstellen. Persönlich finde ich es nicht klug. Ich glaube, dass es wesentlich länger dauert, bis man weiß, ob solche Parteien unser Vertrauen verdienen.


Parteien wie die FPÖ positionieren sich als Verteidiger jüdischer Interessen gegen islamische. Sind das willkommene Verbündete?

Für Österreich kann ich das noch nicht sagen. Aber ich kenne einen Juden, der für eine AfD-Funktion gewählt wurde. Doch es dauerte nicht lange, und es gab eine Programmdebatte über Beschneidung und Schächten. Leute ändern sich eben nicht von jetzt auf gleich – wenn sie es überhaupt tun. Wenn ich die AfD betrachte, habe ich eher das Gefühl, dass wir eine Art von Antisemitismus gegen eine andere tauschen.


Und welche Art ist gefährlicher?

Ich habe mehr Angst vor dem Antisemitismus von morgen als dem von gestern. Im Übrigen: Wir mahnen die Gesellschaft, den islamischen Antisemitismus ernst zu nehmen und zu bekämpfen, aber bei Weitem sind nicht alle Moslems Islamisten.


Welcher ist der von morgen?

Schwer zu sagen. Es gibt sowohl einen der Links- als auch der Rechtsextremen, sowohl einen alteingessenen als auch einen zugewanderten. Es geht einerseits um eine Engstirnigkeit, die die Ausübung von Religion gefährdet, und andererseits um Gewalt. Als im Jahr 2014 Hamas-Raketen auf Israel regneten und Israel Krieg führte, gab es in Deutschland Demos mit Sprüchen wie „Juden ins Gas“. Die Polizei war machtlos. In der Meute werden auch friedliche Leute oft zur Gefahr.


Apropos Israel: Der Wiener Bürgermeister war im Iran. Israel war bei den Gesprächen dort kein Thema. Dafür gab es von der israelischen Botschafterin Kritik. Haben Sie mit Michael Häupl schon darüber geredet?

Nein, ich kenne ihn noch nicht. Aber alle westlichen Politiker wollen derzeit mit dem Iran Geschäfte machen und ignorieren, dass der Iran ein wichtiger Sponsor von Terrorismus ist und Israel offen bedroht. Diese Ignoranz ist verantwortungslos. Aber ich bin Rabbiner und kein politischer Kommentator.


Dann reden wir doch über Ihren Blog: Sie schreiben über Homosexualität. In Wien gab es unlängst eine Regenbogenparade, Kardinal Schönborn war beim Pink-Ribbon-Konzert. Wie ist Ihre Position zu dem Thema?

Wow, das ist keine leichte Frage. Ich glaube, es geht nicht nur um Homosexualität, sondern Sexualität an sich. Wir leben in einer hypersexualisierten Gesellschaft. Die Leute wechseln schnell ihre Partner, weil sie die Romantik immer neu beleben wollen. Doch die neue romantische Beziehung ist – biologisch und physiologisch bedingt – nur deshalb aufregend, weil ihr die Tiefe fehlt. Das Resultat: Die Ehen halten kürzer, die Kinder haben weniger Sicherheit, es gibt auch immer weniger Kinder.


Aber die Frage, wie lange eine Beziehung hält und wie tief sie ist, hat nicht primär etwas mit hetero- oder homosexuell zu tun.

Hören Sie, ich bin orthodoxer Jude. Ich sehe in der Thora ein normatives Gesellschaftsmodell. Sie regelt das Essen genauso wie die Sexualität. Doch ich verneine nicht die Realität: Ich weiß, dass ein Prozentsatz der Menschen homosexuell ist. Trotzdem gibt es eine religiöse Erwartung, wie man leben soll. Man kann sie aber niemandem aufzwingen. Die Menschen, die in die Synagoge kommen, nehmen die Gebote unterschiedlich ernst, ich frage da auch nicht nach. So gibt es sogar viele Homosexuelle, die sich von einem orthodoxen Rabbiner beraten lassen.

Steckbrief

1974 wurde Arie Folger in Antwerpen als Sohn eines Schoah-Überlebenden geboren, seine Mutter stammt aus Nordafrika. Er studierte u. a. in Belgien, England, Israel und den USA.

2003–2008 war er Rabbiner in Basel, später PR-Direktor des Amerikanischen Rabbinerverbands. Danach betreute er Gemeinden in München und Frankfurt. Er spricht Deutsch, Englisch, Französisch, Hebräisch, Jiddisch und Niederländisch.

Seit Anfang Juni ist Folger als Gemeinde-rabbiner in Wien, im September tritt er als Nachfolger von Oberrabiner Paul Chaim Eisenberg an. Folger wird vom Wiener Gemeinde-rabbiner Schlomo Hofmeister unterstützt. Er ist verheiratet und hat sechs Kinder.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2016)

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