Das Steuer festhalten – aber mit welchem Ziel?

(c) EPA (DANILO SCHIAVELLA)
  • Drucken

Seit genau drei Jahrzehnten bestimmt Joseph Ratzinger den Kurs der katholischen Kirche. Zuerst als Chef der Glaubenskongregation, seit 2005 als Papst Benedikt XVI. Heute wird er 85.

Als Augustinus spürte, dass er hinfällig wurde, setzte er sich vors Bücherregal und nahm sich sein Lebenswerk noch einmal vor. So vieles hatte er geschrieben in seinen fast drei Jahrzehnten als Priester, Bischof, weltweit geachteter und gefürchteter Spitzentheologe; so viele Ketzer, einen nach dem anderen, hatte Augustinus in den Boden gerammt. Und immer, wenn er glaubte, einen Augenblick verschnaufen zu können, bekam der „Packesel Gottes“, als der Augustinus sich sah, gleich den nächsten Sack auf den Rücken gewuchtet.

Bevor nun also der Überblick verloren ging, stellte der 73-Jährige seine Schriften in der Endform zusammen. Und auch, wenn er sich selbstbewusst sagte, wie oft er recht behalten hatte: Augustinus betrachtete seine Werke „wie ein Zensor“. Heute, knapp 1600 Jahre später, gibt ein anderer sein theologisches Lebenswerk als Ganzes heraus. Einer, der sagt, Augustinus sei ihm „immer ein großer Freund und Lehrer geblieben“, einer, der in der Abwehr von Irrlehren gleichfalls eine Lebensaufgabe gefunden hat und der sich wie Augustinus ausdrücklich als „Packesel Gottes“ sieht, der sich nun aber vom alten Kirchenlehrer aus Nordafrika absetzt: Bei Joseph Ratzinger gibt es keine Revision.

Kein Werk aus einer jugendlichen Sturm-und-Drang-Periode, das in heutiger Altersweisheit gezähmt werden müsste, keine einzige krumme Formulierung offenbar, keine wissenschaftliche Polemik, die im Eifer des Gefechts übers Ziel hinausgeschossen wäre; alles immer schon, seit 60 Jahren, wie für die Ewigkeit geschrieben.

„Vermeide jedweden Bruch!“

„Der Papst liest seine Arbeiten durch, hakt sie ab und gibt sie unverändert zum Druck. Nur die Rechtschreibung passen wir an“, sagt Christian Schaller vom Gremium, das die Veröffentlichung betreut. Und geistige Entwicklungen, die zumindest vermerkt werden müssten? Der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller, der als Dogmatikprofessor nicht nur des Papstes Chefherausgeber ist, sondern gern dessen Nachfolge als oberster katholischer Glaubenswächter anträte, sagt, Ratzinger habe „immer schon ziemlich früh vorausgeahnt, was kommt; deswegen braucht er auch nichts zu ändern.“ 85 wird Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. heute, am 16. April. Wenn es ein Wort gibt, das ihn zusammenfasst, dann ist das „Kontinuität“. Und die Maxime, die er daraus ableitet, die er mit aller Kraft, beinahe ängstlich verfolgt, sie lautet: „Vermeide jedweden Bruch!“

So bekommt nicht nur Ratzingers frisch erschienene Doktorarbeit, verfasst 1951 im Alter von 23, fachlich denselben Rang wie die beiden Jesus-Bände, mit denen er als über Achtzigjähriger sein wissenschaftliches Werk krönen wollte. Viel mehr als das: Genauso wie Augustinus in einer beständig brüchigen irdischen Welt, will Benedikt eine andere Kontinuität hüten und verkörpern – jene der zweitausendjährigen Kirche als solcher.

30 Jahre sind es, dass derselbe Ratzinger auf der Kommandobrücke der katholischen Kirche steht: zuerst als Präfekt der Glaubenskongregation, dann, seit sieben Jahren, als Papst. Beides zusammengenommen ergibt das eine personelle Stabilität, die in der Kirchengeschichte nur noch von Pius IX. (1846–78) überboten wird. Wenn also Ratzinger sein Papstamt mit einer Rede über die „Hermeneutik der Kontinuität“ einleitete, wenn er also Kardinäle und Theologen verpflichtete, selbst noch die modernen Entwicklungen der Kirchengeschichte als bruchlose Fortführung der Vergangenheit an- und auszulegen, dann tat er das in einem Horizont, der nicht mehr vielen Zeitgenossen aufleuchtet.

Er wollte nicht einfach nur ankündigen, dass er dort weiterzumachen gedachte, wo er mit Johannes Paul II. aufgehört hatte. Einer wie Ratzinger, der mit Augustinus einen „lebendigen, freundschaftlichen Dialog“ führt, bewegt sich in einem anderen Raum – der ausgefüllt ist mit dem, was die Theologie in 2000 Jahren so gedacht und diskutiert hat. Das ist Benedikts Welt. Ihm als Gelehrtem und Papst ist sie ein Reichtum, andere sehen sie (auch) als Ballast.

Doch Ratzinger ist nicht konservativ in dem Sinne, dass er zu irgendetwas zurück wollte. Als einer, der mitten in der Theologiegeschichte lebt, weiß er, dass Tradition sich entwickelt. Wie er sich sieht, hat er Mitte Februar angedeutet, als er neue Kardinäle ernannte. Zu ihnen sagte er: „Betet, dass ich das Steuer der Kirche in milder Festigkeit festhalte.“ Dieser Papst will festhalten, was geworden ist, das Kirchenschifflein, das „von den Wogen des Relativismus hin- und hergeschlagen wird“. Aber was ist der Kurs? Ihn gibt einer wie Ratzinger nicht vor. Er setzt keine neuen Ziele. Die Vergangenheit zeigt ihm nur, dass es – prinzipiell ohne Schiffbruch – immer irgendwie weitergeht; neue Ufer zeigt sie ihm offenbar nicht.

Die Kirche war stets eine römische, eine europäische, eine Einrichtung der Alten Welt. Dort aber schrumpft sie, während sich das Schwergewicht der Gläubigen nach Lateinamerika, Afrika, Asien verschiebt. Was das für die Gestalt der Kirche bedeuten könnte, darauf gibt Benedikt keine Antwort. Mit der jüngsten Kardinalsernennung ist die Kirchenleitung noch europäischer, italienischer geworden. Benedikt bleibt gern in vertrauter Umgebung. Keine Experimente.

Vor einem epochalen Bruch

Ausgerechnet dieser Papst aber, der so sehr auf Kontinuität setzt, steht jetzt vor einem epochalen Bruch. Es spricht vieles dafür, dass in den nächsten Wochen die Einigung mit den ultrakonservativen Piusbrüdern scheitert und damit aus einer katholischen Kirche zwei werden. Besonders tief muss es gerade Benedikt treffen, dass es nicht um Ungehorsam irgendwelcher Kirchenrebellen geht, sondern dass sich der Streit in der geistigen Mitte der Kirche abspielt: bei Begriff und Auslegung der Tradition.

Hier verkehren sich kurioserweise die Fronten: Wenn die Einigung platzt, dann nicht daran, dass die Piusbrüder zu konservativ sind, sondern daran, dass der Papst dies weitaus stärker ist. Benedikt lebt in der Tradition; für ihn ist sie ein lebendiger Prozess. Die Piusbrüder erscheinen demgegenüber als unstatthafte Modernisierer, weil sie versuchen, was es in der Kirchengeschichte noch nicht gegeben hat: einen Prozess nicht nur zurückzudrehen, sondern ihn an einem geschichtlichen Punkt einzuzementieren. Was die Piusbrüder als „Rettung der einzigen, wahren katholischen Kirche“ ausgeben, muss für Joseph Ratzinger genau deren Verhängnis sein.

Als LeoXIII. 1900 seinen 90.Geburtstag feierte, wünschte ihm ein Kardinal: „Mögen Eure Heiligkeit hundert Jahre alt werden!“ Leo erwiderte: „Aber Eminenz, warum wollen Sie der Vorsehung Grenzen setzen?“ Eine Antwort dieses Kalibers würde Benedikt XVI. nie über die Lippen kommen, dafür ist er zu bescheiden. Aber weitermachen wird er auch nach seinem 85. Geburtstag, so lange es irgend geht – und wenn er es als Gezeichneter tun muss. Als Papst fühlt er sich für die Einheit der Kirche verantwortlich. Eine Kirchenspaltung angelastet zu bekommen, das muss er als historisches Scheitern empfinden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.