Soziologe: „Die Religion hilft den Syrern im Widerstand“

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Der englische Autor David Martin, zu Gast beim Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen, im Gespräch über die Natur der Aggression und das Revolutionäre an der Friedfertigkeit.

Kann man Gewalt, die negative besetzte Form der Aggression, auch positiv sehen? Wie verträgt sie sich mit der Religion? „Fast jeder Mensch – außer er ist absolut pazifistisch gesinnt – glaubt, dass Gewalt in bestimmten Situationen nicht nur angebracht, sondern auch notwendig sei,“ sagt der englische Soziologe David Martin, der Richtungweisendes über Säkularismus geschrieben hat und zudem anglikanischer Pfarrer ist. In Wien hat Martin am Freitag über „Religion und Gewalt“ gesprochen. Für die „Presse“ präzisiert er einige Thesen: „Die erste Frage, die man sich stellen muss, ist nicht, ob Religion Krieg hervorruft, sondern unter welchen Bedingungen sie an Formen der Gewalt beteiligt ist, denen man nicht zustimmen kann. Derzeit sind die Menschen zum Beispiel beeindruckt davon, wie in Syrien gegen das Regime (von Diktator Assad) rebelliert wird. Die Religion hilft den Syrern im Widerstand. Es handelt sich um die Mehrheit der Sunniten, die sich hier wehrt. Diese Menschen beanspruchen das Recht aufs Regieren, sie sind in Opposition zu herrschenden Alewiten und Drusen. Sogar die westliche Intelligenz, die sonst in diesem Kontext oft von sektiererischer Gewalt spricht, hält diesen Widerstand für gerechtfertigt.“

Zerrgestalten wie Stalin und Torquemada

Bei der Rechtfertigung von Gewalt müsse man sorgsam sein, nicht nur, wenn es um Religion geht: „In der Argumentation heißt es dann zum Beispiel, Diktator Stalin habe zwar viel Gewalt angewandt, aber das habe nichts damit zu tun, dass er Atheist war. So wie de Torquemada (der erste Großinquisitor Spaniens), der sei ja nicht wirklich Christ gewesen wie der Heilige Franziskus, sondern eine verzerrte Form davon. Er vertrete also nicht das wahre Christentum. Das sind moralische Kalkulationen, bei denen sich ständig Standpunkte verschieben.“

Wie geht ein Kirchenmann mit dem vor allem seit der Aufklärung und der Französischen Revolution forcierten Vorwurf um, Religion und Gewalt seien notgedrungen stark miteinander verbunden? Resultiert die Gewalt aus ihr oder doch nur aus der Macht an sich? Martin: „Das ist eine interessante Assoziation, wenn Sie zwischen der Dynamik der Macht und dem Charakter der Religion unterscheiden. Meiner Ansicht nach gibt es diese Dynamik der Macht immer, egal welche Ideologie gerade herrscht. Ihr Ziel ist der Machterhalt, sie wendet sich gegen alles, was sie bedroht.“

Nicht alle Strömungen der Aufklärung hätten eine negative Sicht auf Religion. „In den USA wird sie nur als schlecht erachtet, wenn sie mit Macht verbunden ist. Sie muss davon getrennt werden. Das ist ganz anders als in Frankreich. Der Konnex ist von eigenen historischen Erfahrungen bestimmt. Ob Religionen friedlich sind, hängt vor allem davon ab, wo und wie sehr sie in Machtstrukturen eingebunden sind. Nehmen Sie die Church of England. Als es für sie wesentlich um die Solidarität mit England gegen dessen Feinde ging, war sie eine verfolgte Kirche. Zwischen Häresie und Hochverrat wurde kaum unterschieden. Der Staat übernahm die Kirche, als sich der englische Nationalismus und die Sprache bildeten.“

Die Dynamik der Macht gebiete es nach einer gewissen Rhetorik, dass gewisse Dinge einfach getan werden müssten. „Das ist auch einem Politiker wie Barack Obama klar. Der US-Präsident hat gewisse Versprechen gemacht, er wollte Konflikte beenden. Aber bevor er dazu kam, sah er sich in der Falle der Machtpolitik gefangen. Er muss einen Staat führen, der seine Interessen verteidigt. So wird aus einem moralischen Helden rasch noch einer von diesen Politikern.“ Die Skepsis sei auch angebracht, wenn Religionen viel Macht haben: „Sie sollten an die Bergpredigt glauben, schlagen stattdessen aber ihre Feinde. Das bezieht sich zum Großteil auf vergangene Macht. Heute werden vor allem Politiker argwöhnisch beobachtet, wenn es um die Macht geht. Sie alle verraten irgendwann ihre Ideale.“

Es komme immer auf den Kontext an. „Nehmen Sie den Dalai-Lama. Er ist nicht nur ein religiöser, sondern auch ein politischer Führer, in Verbindung mit Tibets Nationalismus. Für die Amerikaner ist er nützlich, sie fördern den Separatismus. Aber der Buddhismus ist an sich gegen Gewalt, so wie auch das Christentum. Das ist viel weniger verständlich als Aggression, die ja offenbar genetisch ist. Nicht-Gewalt ist unglaublich, gegen die Biologie gerichtet. Machiavelli würde über solche Friedfertigkeit sagen, das seien keine anständigen Bürger, sie seien nicht bereit zu kämpfen.“ Am besten erkläre man solch eine Einstellung mit Transzendenz. „Das Christentum ist in diesem Punkt wirklich radikal. Es hat mit Christus einen König am Kreuz. Das bedeutet eine Umwertung aller Werte. Der, den der Staat zerstört hat, ist der wahre König. Dieses Bild bereitet dem machtvollen Christentum Probleme. Es stellt Recht und Ordnung auf den Kopf.“

Säkularismus und Religion

David Martin ist Prof. em. für Soziologie, London School of Economics, er lehrte unter anderem auch in Lancaster, Princeton und Boston. Wichtige Werke: Pentecostalism; Tongues of Fire; A General Theory of Secularization; Does Christianity Cause War?

Konferenz. Derzeit widmet sich das Institut für die Wissenschaften vom Menschen im Institut Français d'Autriche-Vienne zum vierten Mal dem Thema „Modes of Secularism and Religious Responses“. [Isabelle Saurer]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2012)

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