Arbeitssklaven: Das globale Heer der Unfreien

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globale Heer Unfreien(c) Reuters (JOE PENNEY)
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20,9 Millionen Menschen verdingen sich heute als Arbeitssklaven und die meisten davon in Asien. Die physische Kontrolle ist der Schuldknechtschaft gewichen, aus der sich die wenigsten wieder befreien können.

Das Angebot war verlockend, zu verlockend. Die Aussicht auf Unterkunft, Essen und einen Lohn von 600 Dollar ließen Luís und Daisy Quispe mit ihren zwei Kleinkindern in den fensterlosen Lieferwagen steigen, der sie aus La Paz ins 3000 Kilometer entfernte Buenos Aires bringen sollte. Ihre Ausweise mussten sie abgeben. Als sie schließlich an ihrem Ziel, einem unscheinbaren Reihenhaus im Schlachthausviertel der argentinischen Hauptstadt, ankamen, war Luís Quispe schnell klar, dass seine Familie in der Falle saß. Ihre Kammer bot Platz für kaum mehr als ein Einzelbett, Bad und Toilette mussten sie sich mit zehn anderen Familien aus Bolivien teilen.

Quispe wusste, dass er Textilien nähen würde, Jeans und Sportkleidung für den argentinischen Markt. Er wusste, dass er ohne Arbeitserlaubnis werken würde. Doch dass er und seine Frau sechs Tage pro Woche von sieben bis 22 Uhr an der Nähmaschine sitzen mussten, das hatte er nicht geahnt. Die Tür des „Sweat-Shops“ blieb stets versperrt, auf die Straße durften die Quispes und ihre beiden Kinder allenfalls sonntags und nie ohne Begleitung. Bezahlt bekamen sie nicht mehr als 50Dollar im Monat. „Für das Nähen einer Jeans, die im Laden 300 Pesos kostet, bekam ich zwei.“ Das sind umgerechnet etwa 33 Eurocent.

Vier Fünftel aller in Argentinien hergestellten Kleidungsstücke stammen aus solch „klandestinen Werkstätten“, kalkuliert der Verband der argentinischen Textilindustrie. Allein im Großraum von Buenos Aires soll es etwa 15.000 dieser Sklavenbetriebe geben, schätzt die Nichtregierungsorganisation „La Alameda“. Mindestens 500.000 Menschen müssen in dem 40-Millionen-Staat unter sklavereiähnlichen Bedingungen arbeiten, schätzen Fachleute. Neben dem Textilsektor ist vor allem die Landwirtschaft betroffen, die nach Gewerkschaftsangaben zu etwa 60 Prozent unter informellen Bedingungen produziert. Ähnlich wie etwa in Brasilien, Paraguay und Bolivien werden Landarbeiter aus armen Gegenden mit falschen Versprechen auf Felder gelockt, die zig Kilometer von der nächsten Durchgangsstraße liegen. Dort sind sie Gefangene unter freiem Himmel, untergebracht unter Zeltplanen oder eingepfercht in verlausten Wohnwagen. Ihre Nahrung müssen sie zu stark überhöhten Preisen beim Patron kaufen, was den Verdienst fast völlig aufbraucht.


Gefangen in Arbeit.„Der Sklavenhandel wurde schon vor langer Zeit verboten – aber Sklaverei war damit nicht vorbei“, sagt Paul Donohoe von der britischen NGO „Anti-Slavery International“. „Sklaverei findet immer neue Formen, es gibt sie auf jedem Kontinent.“ Die Internationale Arbeitsorganisation ILO schätzt die Zahl der Sklaven auf 20,9 Millionen weltweit – Menschen, „gefangen in Jobs, in die sie gezwungen wurden und die sie nicht verlassen können“. Laut ILO werden 18,7Millionen oder 90 Prozent in der Privatwirtschaft ausgebeutet, zehn Prozent von Staaten. Zwar wurden auch in den letzten Jahren einige vormals sozial akzeptierte Sklavensysteme verboten: Nepal schuf vor vier Jahren das sogenannte „Haliya“-System ab – ein Schritt, der mit einem Schlag 20.000 arme Dorfbewohner befreite. Jahrzehntelang waren sie an Landbesitzer und Geldverleiher gekettet. Doch heute ist die Schuldknechtschaft noch immer die häufigste Form von Sklaverei. Asien führt mit 11,7 Millionen Sklaven die traurige globale Wertung an: Menschen werden so niedrig entlohnt, dass sie nie mehr aus dem Teufelskreis der Schuld finden und die Schulden ihren Kindern vererben.


Ungesühnte Gewalttaten. Erfolgreiche Volkswirtschaften verdanken ihren Erfolg mitunter Arbeitssklaven. In Thailand etwa arbeiten mehrere Millionen Menschen aus den verarmten Nachbarstaaten Burma und Kambodscha, die meisten von ihnen sind illegal im Land. Viele landen auf kommerziellen Fischerbooten, auf denen sie keinerlei Rechte besitzen und der Willkür ihrer Arbeitgeber ausgeliefert sind.

Der Bericht des Reporters Patrick Winn von der Online-Nachrichtenseite „Global Post“ zeugt etwa von erschreckenden Gewaltakten an Sklaven. Ein 38-jähriger thailändischer Fischer, der seit 20 Jahren auf Booten arbeitet, gab zu Protokoll, er sei Zeuge der Erschießung einer kompletten Besatzung geworden: Der Besitzer des Bootes habe 14 Männer, die fünf Jahre lang für ihn gearbeitet hätten, an Deck aufstellen lassen und der Reihe nach erschossen. Seine Aufgabe sei es gewesen, die Körper ins Meer zu werfen und „die Schweinerei wegzumachen“.

Ein UN-Team, das Untersuchungen zum Menschenhandel in der Region unternommen hat, sprach 2009 mit 49 befreiten Ex-Seesklaven. Mehr als die Hälfte hatte demnach schon einmal einen Mord an Bord eines Fischerbootes beobachtet. Das Motiv der Täter (meist sind es auch die Besitzer der Boote): pure Profitgier.

Prestigebauten im Sand. Ähnlich wie in Thailand verdankt sich auch der Wirtschaftsboom der Golfstaaten zu einem Großteil der Schufterei weitgehend rechtloser Gastarbeiter.

Neun Stadien, 55.000 Hotelbetten, eine U-Bahn, unzählige Straßen: Das Golfemirat Katar ist 2022 Austragungsort der Fußball-Weltmeisterschaft – Zehntausende sollen es sich in den wohltemperierten Neubauten bequem machen. Bauen wird die Prestigebauten, für die Katar in den nächsten fünf Jahren 100 Milliarden Dollar aufwenden wird, ein Heer an Arbeitern aus Indien, Pakistan, Sri Lanka, Nepal und Bangladesch. Katar hat nach den Angaben von „Human Rights Watch“ heute schon den höchsten Anteil von Gastarbeitern im Verhältnis zu den eigenen Bürgern: Von den 1,7 Millionen Einwohnern sind 1,2 Millionen Migranten. Bis zu einer Million zusätzliche Arbeiter werden noch angeworben.

NGOs befürchten, dass die WM-Pracht von Sklavenarbeitern errichtet wird. Praktisch funktioniert dies über das sogenannte „Kafala“-System: die Anwerbung durch einen Sponsor, dem die Arbeiter hilflos ausgeliefert sind. Ein Arbeitgeberwechsel ist unmöglich. Durch Kündigung werden die Arbeiter zu Illegalen – ein probates Druckmittel. „Wenn der Lohn nicht bezahlt wird und die Arbeiter sich beschweren wollen, wird ihnen mit der Kündigung gedroht“, erklärt Nicholas McGeehan von „Mafiwasta“, einer Organisation, die Arbeitsrechte in der Golfregion verteidigt. McGeehan bezeichnet das Abhängigkeitsverhältnis als „De-facto-Sklaverei“: „Die Arbeiter sind aufgrund der Reise- und Visakosten hoch verschuldet, Pässe werden konfisziert, sie können sich nicht an Polizei und Justiz wenden, Gewerkschaften sind verboten – alle diese Faktoren zusammen entsprechen jenem Grad an Kontrolle wie bei physischem Besitz.“

Bisher hat in der Golfregion nur Bahrain das Kafala-System abgeschafft. Wirtschaftskreise zeigen sich unwillig, das zu ändern, Katar hat eine Reform erst unlängst mit dem Verweis auf seine „Souveränität“ abgelehnt. Paul Donohoe dazu: „Hinter den Unternehmen stehen die Herrscherfamilien.“

In zahlen

20,9Millionen Sklaven gibt es laut Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation ILO heute weltweit. Der US-Autor Bales (siehe Interview) schätzt ihre Zahl aber höher – auf sogar 27 Millionen.

18,7Millionen davon (laut ILO-Zahl) werden von Individuen oder Firmen ausgebeutet. 4,5 Mio. (22%) sind Opfer sexueller Ausbeutung, 14,2 Mio. (68%) von ausbeuterischer Arbeit in Landwirtschaft oder Industrie. Die übrigen 2,2 Millionen Sklaven müssen in staatlichen Gefangenenlagern Zwangsarbeit leisten, die internationalen Normen widerspricht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.09.2012)

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