„Todeslisten“: Sparen an Sterbenskranken

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Britische Ärzte sollen Register führen, welche Patienten innerhalb eines Jahres sterben werden, und Menschen ermutigen, ihr Leben außerhalb des Spitals zu beenden. Das soll eine Milliarde Pfund jährlich einbringen.

Seit jeher war Großbritannien eine Hochburg der Science-Fiction. Aber dieses Land hat nicht nur einige der düstersten Zukunftsvisionen hervorgebracht, es ist auch sehr gut darin, sie zu verwirklichen. Und so rückt es Europa derzeit einem kollektiven Albtraum näher: nämlich einer Welt, in der man alte, schwer kranke Menschen sterben lässt, weil ihr Weiterleben unnötig teuer kommt.

Ein mögliches neues Werkzeug auf diesem Weg nennt sich „End of Life Care“, „Sorge für das Lebensende“ – Gegner bevorzugen den Ausdruck „Todeslisten“. Ärzte sollen Register führen von jenen Patienten, die ihrer Einschätzung nach innerhalb eines Jahres sterben werden. Mit diesen Menschen soll dann über einen „Lebensende-Plan“ beraten werden. Zentral soll dabei die Frage sein, ob der Patient seine letzte Lebenszeit zu Hause verbringen will, statt im Spital mit lebenserhaltenden Maßnahmen die Leidenszeit zu verlängern.

Patienten wussten nichts davon

In den vergangenen Tagen ist diese von Ministern unterstützte Kampagne durch einen Bericht der „Daily Mail“ an die Öffentlichkeit gesickert. Bis jetzt haben sich nach Auskunft des Gesundheitsministeriums 3000 Ärzte erklärt mitzumachen, über 7000 Patienten sind schon registriert. Sie wussten nichts davon. Offenbar müssen die „Todeskandidaten“ oder deren Angehörige nicht informiert werden. Das Ministerium hat auch eine Quote aufgestellt: Ungefähr ein Prozent der Patienten soll registriert werden.

Was ist falsch daran, mit Menschen zu beratschlagen, ob sie vielleicht zu Hause ihr Leben angenehmer beenden können als in steriler Spitalsanonymität? Was ist falsch daran, sie zu Patientenverfügungen zu ermutigen, in denen sie festhalten können, dass sie unter bestimmten Umständen nicht mehr künstlich ernährt werden wollen? Grundsätzlich nichts, in diesem Fall alles.

Ersparnis: Eine Milliarde Pfund pro Jahr

Während jene Frage nämlich bisher unter dem Gesichtspunkt des Patientenwohls erörtert wurde oder wenigstens werden sollte, vollzieht die chronisch unterfinanzierte britische Gesundheitspolitik offen den Tabubruch: In Englands Spitälern wird der Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen in den Dienst der Geldbeschaffung gestellt. Über eine Milliarde Pfund jährlich hofft man einzusparen.

Schon in den 1990er-Jahren ging aus der britischen Hospizbewegung der sogenannte „Liverpool care pathway“ hervor, ein mittlerweile weltweit eingesetzter Leitfaden zur Sterbebegleitung. Um Sterbenden in den letzten Lebenstagen das Ende zu erleichtern, können etwa starke Schmerzmittel eingesetzt und die künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr abgesetzt werden. Mittlerweile wird dieser Plan in vielen Spitälern angewandt, doch in jüngster Zeit haben sich in England Klagen von Angehörigen und Ärzten gemehrt. Die Maßnahmen würden häufig ohne Einverständnis der Angehörigen und zu früh erfolgen, und um Spitalsbetten freizubekommen. Was gut gemeint war, entwickle sich immer mehr zu einer Hintertür zur Euthanasie, sagen Kritiker.

Das neue Lebensende-Register fordert nun von den Medizinern auch noch Prognosen, die nicht nur Tage, sondern bis zu einem Jahr umfassen. Dabei ist unbestritten, dass Ärzte bei so großen Zeiträumen auch dramatisch irren können. Wenn sie aber irren, können diese falschen Prognosen zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden; dann nämlich, wenn der „aufgegebene“ Patient den Eindruck erhält, dass ihn bestimmte medizinische Maßnahmen nur unnötig quälen würden.

Prognose für ein Jahr unmöglich

Clare Gerada, Ärztin und Beraterin des britischen Gesundheitsministeriums, findet die Angst unberechtigt: „Es ist wichtig, dass Ärzte mit Patienten, die sich dem Lebensende nähern, einfühlsam über ihre Wünsche sprechen, etwa ob sie lieber zu Hause gepflegt werden. Eine halbe Million Menschen in England sterben jedes Jahr, viele von ihnen bekommen vor ihrem Tod nicht die Art von Pflege, die sie gerne hätten, oft einfach, weil man mit ihnen nicht darüber diskutiert hat.“

Selbst bei Schwerkranken könne man keine Prognose für ein Jahr erstellen, nur statistische Mittelmaße, kritisiert dagegen Ulrich Körtner, Theologe und Mitglied der österreichischen Bioethikkommission. „Es ist sehr fragwürdig, so über Einzelschicksale zu entscheiden.“ Stattdessen sollte man strukturelle Überlegungen forcieren. „Man muss sich ansehen, wie die Ressourcen zwischen Akutmedizin und Pflege aufgeteilt sind, und daran arbeiten, eine gute Palliativversorgung für die Gesamtbevölkerung zu schaffen. Trotz einiger Initiativen ist das auch in Österreich noch lange nicht optimal.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2012)

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