Unheimliche "Nick-Krankheit" tötet Afrikas Kinder

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Unheimliche "Nick-Krankheit" tötet Afrikas KinderSIOBHÁN GEETS
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Die Symptome der „Nick-Krankheit“ sind bizarr: Kinder fangen zu nicken an, wenn sie Essen sehen. Am Ende sterben sie meistens an Unterernährung. Ob das Leiden zwangsläufig tödlich endet, weiß man nicht.

Bawda Alison sitzt am staubigen Boden vor ihrer Lehmhütte und starrt ins Leere. Es ist ein Blick, der einem im Süden des jüngsten afrikanischen Staates allzu oft begegnet: Teilnahmslos, mit offenen Mündern und geschwollenen Lippen, blicken die Kinder und Jugendlichen auf einen unbestimmten Punkt jenseits unserer Wahrnehmung. Ihre Umgebung scheint sie nicht mehr zu interessieren.

Wie tausende andere Kinder und Jugendliche im Südsudan, in Norduganda und Tansania ist Bawda mit der mysteriösen „Nick-Krankheit“ infiziert, die Betroffene langsam dahinrafft. Die kuriosen Symptome bereiten Ärzten und Neurologen Kopfzerbrechen: Es beginnt damit, dass die Nackenmuskeln der Kinder versagen, wenn man ihnen traditionelles Essen vorsetzt – daher das Nicken. Sie fangen an zu frieren, werden von epileptischen Anfällen geschüttelt. Gibt man ihnen hingegen Unbekanntes, etwa Schokoriegel, bleiben die Symptome aus.

Bawda ist 18 Jahre alt, sieht aber viel jünger aus. Einmal erkrankt, hören die Kinder auf zu wachsen und sich geistig zu entwickeln. Sie leiden unter Antriebslosigkeit, verlieren den Appetit und werden immer schwächer. Am Ende sterben sie meistens an Unterernährung. Mindestens 3000 Kinder sind allein im Südsudan infiziert, Tendenz steigend. In Uganda sind es noch einmal so viele.

Fadenwurm als Ursache?

Über die Ursache der neurologischen Erkrankung wird nach wie vor gerätselt. Die meisten Ärzte vermuten, dass sie etwas mit dem parasitären Fadenwurm Onchocerca volvulus zu tun hat, der auch für die weit verbreitete Flussblindheit verantwortlich ist und in allen Gebieten vorkommt, in denen die Nick-Krankheit in den vergangenen Jahren zum wachsenden Problem wurde. Übertragen wird Onchocerca durch die Kriebelmücke, die ihre Eier in der Nähe fließender Gewässer unter die Haut legt. Kernspin-Untersuchungen und Autopsien könnten helfen, die Ursache der Krankheit zu finden, doch es gibt nur wenige veraltete Geräte im Land, und die wenigen Krankenhäuser haben keine passenden Labors für Analysen.

Krämpfe und Verwirrung

Bawdas Mutter Margret Alison hat schon zwei Kinder an die Krankheit verloren, drei weitere sind infiziert. Die meisten erkranken im Alter zwischen fünf und 15 Jahren, doch viele leben lange mit dem Syndrom. Im südsudanesischen Bundesstaat Central Equatoria trifft man heute auch auf infizierte Erwachsene. Ob das Leiden zwangsläufig tödlich endet, weiß man nicht.

Margrets 15-jähriger Sohn verstarb daran vor einigen Jahren, wahrscheinlich aus Schwäche. Vor seinem Tod wolle er die Hütte nicht mehr verlassen, magerte immer mehr ab und konnte am Schluss nicht mehr gehen. In der letzten Phase kommt es zur Deformierung der Knochen. Vor wenigen Wochen fiel Margrets 20-jährige Tochter während eines Anfalls ins Feuer. Die Verbrennungen am Oberkörper waren so schlimm, dass die Krankenschwester, die Tage später eintraf, nichts mehr für das Mädchen tun konnte.

Medizin gegen Epilepsie hilft zwar gegen die Symptome, ist jedoch schwer zu bekommen. Im 30Kilometer entfernten Krankenhaus gibt es die Pillen bereits seit einem Jahr nicht mehr. Die Medikamente sind teuer, drei Pfund (etwa ein Euro) kostet eine Tablette, die täglich eingenommen werden muss. Manchmal, wenn sie es sich leisten kann, schickt Margret Alison ihre Kinder nach Mundri, die nächste Stadt, um das Medikament in der Apotheke zu kaufen. „Das hilft ein bisschen, die Anfälle werden dann weniger“, sagt sie im Gespräch mit der „Presse“.

Die Familie lebt von der Subsistenzwirtschaft. Ein bisschen Geld lässt sich mit dem Verkauf von Bananen am Straßenrand verdienen. Margret weiß nicht mehr, was sie noch tun soll. Die Anfälle kommen mehrmals täglich und dauern etwa fünf Minuten. Jedes Mal, wenn die Kinder essen sollen, brechen sie unter Krämpfen zusammen. Danach können sie sich an nichts erinnern.

Bawda ist oft sehr verwirrt. „Sie benimmt sich seltsam, geht zu nahe ans Feuer heran“, sagt ihre Mutter. „Manchmal läuft sie davon, in den Busch, und wir müssen ihr nachlaufen.“

Kein Gesundheitssystem

Bis die Ursache der Krankheit geklärt ist, kann es Jahre dauern – falls es je dazu kommt: Die US-Behörde „Centers for Disease Control“ untersucht das Syndrom seit Jahren – ohne viel Erfolg. Pharmakonzerne interessieren sich nicht dafür, weil mit der Behandlung kein Geld zu machen ist. Und die Regierung des Südsudan steckt eineinhalb Jahre nach der Unabhängigkeit vom nördlichen Nachbarn Sudan noch in den Kinderschuhen. Es gibt kein funktionierendes Gesundheitssystem, kein Geld für Schulen und Straßen.

Die europäische Organisation „Licht für die Welt“ unterstützt lokale NGOs, die planen, Medizin an Betroffene zu verteilen. Die Pillen zu nehmen, ohne zuvor ein Blutbild zu machen, ist zwar nicht optimal, aber die Menschen sind froh, wenn sie etwas gegen die Symptome tun können. So können die Kinder zumindest die Schule besuchen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2012)

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