Newtown: Als das Grauen hereinbrach

Newtown Grauen hereinbrach
Newtown Grauen hereinbrach(c) AP (Alex von Kleydorff)
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Ganz in schwarz gekleidet exekutierte ein 20-Jähriger kaltblütig seinen Amoklauf. Das Schulmassaker in Newtown hat weltweit Entsetzen ausgelöst. Pfarrer, Politiker und Psychologen versuchen Trost zu spenden.

Vor der St. Rose-Kirche flackerten 26 Kerzen wie leuchtende Mahnmale in der Finsternis. Im Gotteshaus drängten sich die Gläubigen in den Bänken. Sie rückten eng zusammen, die katholische Kirche von Newtown quoll über. Keine zehn Stunden nach dem Massaker an der Sandy-Hook-Volksschule suchten die Bewohner des Neuengland-Städtchens die Wärme und Geborgenheit der Gemeinschaft, draußen harrten Hunderte bei frostigen Temperaturen in Andacht und stiller Anteilnahme aus. Gebete und der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod spendeten so etwas wie Trost in einer Gemeinde, in die am Freitagvormittag der Horror hereingebrochen war und 20 Kinder und sechs Erwachsene jäh aus dem Leben gerissen hatte.

Dan Malloy, der demokratische Gouverneur von Connecticut, versuchte die Fassungslosigkeit in Worte zu kleiden: „Das Böse hat uns heimgesucht.“ Bei der Vigil hatte auch Pfarrer Robert Weiss seine Sprache wiedergefunden. Er sprach von den 20 ermordeten Kindern als „Heilige“ und „Engel“. Stunden zuvor hatte ihn in einem TV-Interview die Rührung übermannt, als er schilderte, wie die Eltern mit dem Verlust umgingen, wie sie ihre Hände in ihren Gesichtern vergruben, wie sie zusammenbrachen. „Sie schreien, sie werfen sich auf den Boden. Was soll ich sagen? Wie soll man mit all dem leben?“ Danach drehte er sich selbst verschämt weg, weil die Stimme versagte angesichts des Schmerzes – so wie bei Barack Obama, der sich im Weißen Haus quasi als „Vater der Nation“ an die US-Bürger wandte.

Zwei seiner Mitarbeiter, beide Eltern kleiner Kinder, hatten sich während Obamas Ansprache heulend aneinandergeklammert. Der Präsident malte eine Zukunft der 20 Kinder aus, die sie nun nicht mehr haben würden: „Sie werden keine Geburtstage mehr feiern, keine Abschlussfeiern, keine Hochzeiten. Sie werden nicht dem amerikanischen Traum nacheifern, sie werden selbst keine Kinder haben.“ Bald darauf brach er die Rede ab, die eigentlich länger konzipiert war, weil er fürchtete, sie nicht durchstehen zu können. Nur eins sagte er abschließend noch: „Ich werde meine Kinder am Abend fest in die Arme nehmen.“


Über Nacht in Schule.
Währenddessen lagen die Toten in der Nacht auf Samstag immer noch in der Schule aufgebahrt, wo Forensiker und Polizeimediziner sie zu identifizieren versuchten – eine gespenstische Szene. Erst im Laufe des Samstags gaben die Behörden die Namen der Opfer preis – jener fünf- bis zehnjährigen Schüler und sechs Erwachsenen, deren Schicksale die Amerikaner und die ganze Welt in der letzten Woche vor Weihnachten rühren wird. Menschen wie die engagierte 47-jährige Direktorin Dawn Hochsprung, die am Vorabend des Amoklaufs noch ein Weihnachtskonzert organisiert und die den Attentäter womöglich am Freitag selbst in die Sandy-Hook-Schule gelassen hatte, weil sie ihn als Sohn der Vorschullehrerin Nancy L. kannte. Aufgescheucht vom Lärm im Gang stellte sie sich dem Attentäter gemeinsam mit der Schulpsychologin in den Weg und stellte ihn zur Rede. Ohne ein Wort zu sagen, so beschreiben es Augenzeugen, drückte Adam L. ab. Eine Hinrichtung, wie es den Anschein hat.

Ganz in schwarz gekleidet exekutierte der 20-Jährige kaltblütig seinen Amoklauf. In der Früh hatte er seine Mutter in ihrem Haus erschossen, mitten ins Gesicht. Danach setzte er seine tödliche Mission fort. Die Mordwerkzeuge – drei Waffen, die er mit sich führte, darunter eine Glock-Pistole – waren auf den Namen der Mutter registriert. Nancy L. war in der Nachbarschaft als Waffenfetischistin bekannt, die ihre beiden Söhne mitunter zum Schießstand schleppte.

Die L.s hatten sich vor fünf Jahren scheiden lassen, woran die Söhne Ryan und Adam zunächst angeblich schwer trugen. Peter L., ein Ingenieur bei General Electric, heiratete im Vorjahr ein zweites Mal. Auch der ältere Bruder Ryan zog bald aus. Seit 2010 sei der Kontakt zu seinem jüngeren Bruder abgerissen, teilte er in einem Polizeiverhör mit. Die Polizei hatte ihn in Hoboken in New Jersey, vis-à-vis von New York am Hudson gelegen, festgenommen, weil er unter dringendem Tatverdacht stand. Polizisten hatten am Tatort seinen Ausweis gefunden, den Adam offenkundig entwendet hatte. Dies löste zuerst Verwirrung unter den Ermittlern und den Medien aus, die den falschen Namen in Umlauf brachten.

Der 24-jährige Ryan gab an, sein Bruder leide unter autistischen Störungen, vermutlich am Asperger-Syndrom. Nachbarn und Bekannte beschreiben Adam L. als Einzelgänger, still und höflich, der augenscheinlich zuletzt zu Wutausbrüchen neigte, aber nie sonderlich auffällig wurde. In der Schule galt er als „Nerd“ unter Genieverdacht, mit einem Schulfreund habe er einen Tech-Klub gegründet. Die Mutter, heißt es, habe ihn zu schulischem Ehrgeiz angestachelt. Ex-FBI-Profiler Clint Van Zandt erklärte, der Täter habe gleich zwei Tabus gebrochen: den Mord an der Mutter und an den Kindern, die dem Vernehmen nach an ihrer Vorschullehrerin hingen. Ein Racheakt, ein Eifersuchtsdrama? Das Motiv gibt nach wie vor Rätsel auf, Kriminologen durchstöbern Notizen und Einträge in den sozialen Medien wie Facebook auf mögliche Hinweise.


Parallelen zu Vorgängern. Wie beim 22-jährigen Jared Lee Loughner – dem Attentäter der Politikerin Gabby Giffords in Tucson, wie beim 24-jährigen James Holmes – dem Amokläufer im Kino in Aurora, wie beim 22-jährigen Attentäter in der Shoppingmall in Portland zu Beginn der Woche handelt es sich auch bei Adam L. um einen psychisch gestörten jungen Mann, der als einzigen Ausweg aus einer Lebenskrise den Gewaltausbruch ansah. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern richtete er sich indessen selbst. Um keinen Nachahmungseffekt zu provozieren, versuchen US-Medien wie CNN, seinen Namen so weit als möglich zu vermeiden. Vorläufig kursiert auch nur ein Jugendfoto von ihm. Im Highschool-Klassenbuch ließ er sich nicht ablichten. „Kamerascheu“, lautete die einsilbige Notiz. Mitschülerin und Nachbarin Alex Israel erzählte, sie habe ihn aus den Augen verloren. Unklar ist vorerst auch, was der 20-Jährige, der bei seiner Mutter wohnte, sonst getrieben habe. Einer geregelten Arbeit oder einem Studium ging er ersten Angaben zufolge nicht nach.

In Newtown sind unterdessen längst Schwärme von Reportern und Psychologen eingefallen. Die Psychologen haben sich der Familien der Opfer angenommen, die zunächst völlig von der Öffentlichkeit abgeschirmt wurden. manche Eltern sind überhaupt übers Wochenende aus dem Neuengland-Städtchen inmitten einer hügeligen Waldlandschaft an der Interstate-84, rund eineinhalb Autostunden nordöstlich von New York, geflüchtet. Vor zehn Jahren hat sich der letzte Mord in der Idylle ereignet. Auch viele Überlebende bedürfen psychologischer Hilfe. Wie die 29-jährige Lehrerin Kaitlin Roeg, die ihre siebenjährigen Schüler geistesgegenwärtig im Klo einsperrte und sich mit ihnen in eine Ecke kauerte, so wie es die Notfallmaßnahmen vorschreiben, die die US-Schulen inzwischen routinemäßig trainieren. „Ich dachte, wir werden sterben. Aber ich sprach ihnen Mut zu: ,Alles wird okay.‘“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.12.2012)

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