Reinhard Haller: "Einmal nicht nichts sein"

Gerichtspsychiater Reinhard Haller über das Typische und Untypische dieses Amoklaufs und warum Schulmassaker so oft in den USA passieren.

Wie beurteilen Sie den aktuellen Amoklauf?

Reinhard Haller: Einiges ist typisch für einen „School Shooter“ und einiges ist ganz besonders untypisch und könnte eine Erklärung liefern. Typisch ist, dass es ein Junge war, 20 Jahre, aus guten sozialen Verhältnissen. School Shooters kommen fast nie aus schlechten sozialen Verhältnissen. Liebevolles Elternhaus, hochintelligent, zurückhaltend, verklemmt, etwas absonderlich, wenige Freunde und Zugang zu Waffen. Das ist das charakteristische Profil. Das Problem dabei ist, dass es natürlich auf hunderttausende Jugendliche zutrifft und man nicht weiß, warum der eine zur Waffe greift und der andere nicht.

Was war untypisch?

Wirklich untypisch ist, dass er die Mutter umgebracht hat. Und dass er dann an die Schule gefahren ist, wo seine Mutter unterrichtet hat. Das zeigt deutlich auf, dass sich der emotionale Konflikt in erster Linie auf die Mutter bezogen hat. Also dass er sich offensichtlich zu wenig geliebt, anerkannt, gefördert oder zu viel gekränkt gefühlt hat. Was überhaupt nicht heißt, dass die Mutter so gewesen ist. Nur so kann man erklären, dass er die Mutter und deren Schulkinder umgebracht hat.

Warum immer Schulen?

Weil das auch der Ort ist, wo man die meisten Kränkungen erfährt und wo man die Menschheit am stärksten treffen kann. Wenn man jemandem die Kinder nimmt, ist das der größte Schmerz. Aus dem heraus kommt zum Ausdruck, mit welcher ungeheuren Wut diese jungen Menschen auf das Sich-nicht-verstanden-und-geliebt-Fühlen reagieren. Nach dem Motto: einmal nicht nichts sein.

Haben Amokläufer immer Persönlichkeitsstörungen?

Es sind in der Regel keine psychisch kranken Menschen. Aber es sind in der Persönlichkeitsentwicklung gestörte Menschen. Es sind entweder neurotische, narzisstisch gekränkte Menschen oder solche, die ein Asperger-Syndrom aufweisen, sich also schwer in andere hineinfühlen können, gleichzeitig extrem kränkbar sind.

Gibt es Anzeichen, die vorher sichtbar sind?

Die gibt es, wir kennen ja das Profil, aber es ist eben nicht sehr spezifisch. Es trifft auf mindestens sieben bis acht Prozent der Jugendlichen zu. Das einzig Durchschlagende ist die Griffnähe zur Waffe und der Umgang damit.

Wie sieht es mit der Rolle der Medien aus?

Die Medien spielen eine ganz wichtige Rolle. Aber es ist klar, dass, wenn 27 junge Leute ums Leben kommen, darüber berichtet wird. Wenn man es kriminalitätsprofilaktisch machen könnte, müsste man es geheim halten, was aber nicht geht. Aber dann würde man vielen School Shootern den Boden entziehen.

Sollte man den Täter weniger porträtieren?

Ja. Aber man kann das Problem nicht lösen. Das ist die neue Form des Verbrechens, die zunimmt. Man muss mit Prävention reagieren, da junge Menschen viel frustrierter, kränkbarer sind.

Warum passiert das so oft in den USA?

Es ist nicht immer in den USA, aber fast überwiegend in der nördlichen Hemisphäre. Es ist eher die nördliche Mentalität, wo man viel in sich hineinfrisst und weniger aus sich herausgeht. Woanders baut man die Frustration durch stärkere Emotionalität ab. Serienkiller hat es auch zuerst in den USA gegeben, sie wurden dann von der restlichen Welt imitiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.12.2012)

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