Medialer Belagerungszustand

Medialer Belagerungszustand
Medialer Belagerungszustand(c) AP (Julio Cortez)
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Die Weltpresse ist in das Neuengland-Dorf Sandy Hook eingefallen. Sender wie CNN berichten fast rund um die Uhr von Leid und Trauer.

An der Church Hill Road fädeln sich die Satellitentrucks der TV-Stationen hinauf bis zur Methodistenkirche und hinunter bis zum Stone River. An der Kreuzung in der Ortsmitte von Sandy Hook hat ein RTL-Reporter mit seinem Kamerateam Position bezogen, unten am Stone River sendet CNN praktisch ohne Unterlass vom Ort des Schulmassakers. „Kannst du mich hören?“, fragt CNN-Starmoderator Wulf Blitzer von der Außenstelle unter dem weißen Baldachin in einer Werbepause seine Produzentin im Studio. „Ich kann dich hören.“

Bei Kriegen, Krisen und Katastrophen schlägt die Stunde des Nachrichtensenders aus Atlanta. Desaster sind gut fürs Geschäft, das News-Business. In der Flaute der nachrichtenarmen Zeit trudeln die CNN-Quoten in den USA nach unten, das um Neutralität bemühte Network wird in der Polarität zwischen der parteiischen Konkurrenz von Fox News und MSNBC aufgerieben. Jeff Zucker, der neue, von NBC abgeworbene Chef, soll darum mit Infotainment die Einschaltquoten in die Höhe treiben. Piers Morgan, der Larry-King-Nachfolger, der demnächst von der Prime Time in die Late-Night-Schicht übersiedeln soll, exerziert es als Krachmacher bereits vor. Neulich brüllte er, als ehemaliger britischer Boulevard-Chefredakteur um den sensationsheischenden Effekt wissend, in der echauffierten Manier seiner Kollegen von Fox News die Verfechter eines liberalen Waffengesetzes nieder.

Priester erteilt Kamerateam den Segen

Die Sandy-Hook-Schule selbst ist derweil weitflächig abgesperrt, die Ermittlungen sind längst nicht abgeschlossen. Vor dem Zeughaus der Feuerwehr, an der Einfahrt zum Schauplatz des Amoklaufs, vor den Mahnwachen surren die Kameras. Die Welt kann nicht genug bekommen von den Bildern von Leid und Trauer. Und ein katholischer Priester erteilt einem Kamerateam seinen Segen. Einen Ablass? Der Pfarrer und die beiden Journalisten verharren für eine kurze Weile im Gebet, ehe die Kameras wieder zu laufen beginnen.

Zuweilen gleichen die Szenen jenem Filmklassiker Billy Wilders, in dem Kirk Douglas den titelgebenden „Teufelsreporter“ darstellt – freilich ohne die Auswüchse, die der Regisseur satirisch aufs Korn nimmt. Sogenannte „Booker“ wanderten tagelang von Haus zu Haus, um Interviewpartner für die großen US-Networks heranzukarren. Die Sendeminuten müssen gefüllt werden.

Die Medieninvasion ist für Sandy Hook „Fluch und Segen“ zugleich, wie die „New York Times“ urteilte, die wie andere US-Medien Porträts der Opfer in ausführlicher Breite abdruckte. Seit vorigen Freitagmittag befindet sich das kleine Dorf in der Senke des Stone River, ein Teil des Neuengland-Städtchens Newtown, im medialen Belagerungszustand. Die Weltpresse ist wie ein Heuschreckenschwarm eingefallen in die kleine Welt in der Südwestecke von Connecticut. Es ist kaum ein Parkplatz zu kriegen, die Journalisten haben das Café „Demitasse“ am Stone River und andere Lokalitäten des Dorfs gleichsam okkupiert. Zeitweise tummeln sich im Ortszentrum mehr Medienleute als Einheimische.

Manche versuchen dem Überschreiten der Intimsphäre indes Einhalt zu gebieten. Vor der katholischen St. Rose Church in Newtown, vor der Modeboutique „Sabrina & Style“ bitten Plakate mit der Aufschrift „No Press“ um absolute Diskretion. Das fällt schwer in Zeiten aufgeregter Schlagzeilen, die sich mitunter als falsch herausstellen. Der Name des Amokläufers, der Beruf der Mutter, die Umstände des Tathergangs: Falschmeldungen geisterten in der kurzatmigen Twitter-Welt der „Breaking News“ anfangs durch die Medien („Die Presse“ war keine Ausnahme). Für eine Überprüfung der Fakten blieb angesichts der sich überschlagenden Nachrichten kaum Zeit. Die Mehrzahl der Opferfamilien schottet sich derweil ab, und die Medien versuchen die Intimsphäre bei den Begräbnissen zu respektieren. Sie wandern auf einem schmalen Grat zwischen Informationspflicht und Verletzung der Pietät.

Dass in China fast zeitgleich ein Amokläufer mehr als 20 Menschen mit einem Messer niedermetzelte, wurde zur Randnotiz, wie ein Gast der Trauerfeier in der Newtown High School zu Recht anmerkte. Die Weltmedien sind auf die USA fokussiert, und die weitgehende Transparenz ermöglicht ihnen – im Gegensatz zu China – auch den freien Zugang zur Information.

Live on air das Leid von der Seele reden

Dass sich manche, wie der 30-jährige Assistenzarzt Robbie Parker, der Vater der ums Leben gekommenen Emilie, freiwillig den Reportern stellten, war jedenfalls ein medialer Glücksfall. Er suchte die Öffentlichkeit, um das zu kurze Leben seiner Tochter zu feiern, wie es gute Tradition ist in den USA. Dass er ihr Lektionen in Portugiesisch erteilte, dass die „Sonne aufging, wenn sie in einem Raum erschien“: All das wollte er sich von der Seele reden. Er setzte seiner Tochter so posthum ein Denkmal, und die Medien posaunten es von Sandy Hook in die Welt hinaus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2012)

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