"Weltuntergang": Massenflucht in ein türkisches Dorf

(c) REUTERS ( Mark Blinch Reuters)
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Die wenigen Hotels in Şirince bei Izmir sind total ausgebucht: Einige Esoteriker glauben, nur hier das angebliche Weltende zu überleben.

Normalerweise sind die Winter ruhig in dem türkischen Dorf Şirince. Mit seiner malerischen Lage auf einem bewaldeten Hügel nahe der Ägäisküste, rund 60 Kilometer südöstlich von Izmir, und seinen alten griechischen Häuschen zieht Şirince im Sommer viele Touristen aus dem nahen antiken Ort Ephesus an, doch im Dezember kommt kaum jemand. Normalerweise: Heuer wird der Ort mit seinen rund 700 Einwohnern überlaufen.

„Unglaublich“ sei die Zahl der Buchungen für die letzten Dezembertage, sagt Hotelier Ilkan Gülgün. Täglich müsse er etwa zehn Anfragen abweisen, weil bei ihm schon alles voll sei, berichtet Sevan Nisanyan, der ein anderes Hotel im Ort betreibt. Tatsächlich hätten seit etwa zwei Monaten tausende Menschen aus der Türkei und dem Ausland angefragt, dabei gibt es hier nur etwa 400 Betten.

Den Boom verdankt Şirince dem am heutigen 21. Dezember angeblich laut Maya-Kalender drohenden Weltuntergang: Das Nest soll einer der wenigen Orte sein, der ihn überlebt. Der Maya-Kalender sieht nämlich für 21. Dezember 2012 das Ende eines mehrtausendjährigen Zyklus vor, was von manchen Esoterikern fälschlich als das Ende schlechthin interpretiert wurde; zudem deuten ungewöhnliche kosmische Konstellationen angeblich auf den Jüngsten Tag, auf massive Sonneneruptionen, Megabeben, Tsunamis und Vulkanausbrüche, ja die Verschiebung der Erdachse. Im Internet werden seit Längerem Anleitungen zum Bunkerbau und zur Planung einer Notfallausrüstung angeboten.

Mit der „Kraft der Muttergottes“

Und Şirince? Schon seit Jahrzehnten gilt der ehemals griechische Ort, der in den 1920ern nach einem erzwungenen Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland von Türken besiedelt wurde, bei Esoterikern als Stelle „einer ganz besonderen Energie“, sagt Nisanyan. Einige vermuten hier den Geburtsort der griechischen Jagd- und Fruchtbarkeitsgöttin Artemis und sogar jene Stelle, wo Maria, Jesu Mutter, in den Himmel auffuhr.

Das könnte Şirince retten, glauben viele der esoterisch verschrobenen Gäste, die bereits gekommen sind. „Sie erwarten, dass hier ein Schiff ankommt und die Auserwählten nach einer neuen Sintflut wie eine neue Arche Noah mitnimmt in eine goldene Zukunft“, sagte Hotelier Gülgün. „Ein neues Zeitalter wird beginnen, denken sie.“ Auch andere Ort gelten als solche „Notausgänge“ (siehe Artikel unten).

„Es wird Chaos geben“

Die Dorfbewohner hingegen fürchten nicht die Apokalypse, sondern die Überforderung ihres kleinen Ortes. Hotelier Nisanyan erzählt von einer Nachfrage, die die Bettenzahl zehnfach überstiegen habe. „Ich habe sogar Indonesier hier“, auch deutsche Weltuntergangsflüchtlinge hätten sich angesagt. „In Şirince wird die Welt untergehen, wenn wir zehntausend Leute hier haben“, sagt Nisanyan. „Es ist klar, dass es Chaos geben wird.“

Türkische Medien haben spekuliert, dass auch US-Promis wie Jennifer Lopez und Scientology-Anhänger Tom Cruise in das Küstendorf flüchten – Cruise ließ das zuletzt dementieren. Ob des Bettenmangels gab es Pläne zur Aufstellung von Zeltlagern, doch sagen manche Lokalpolitiker, dass die Nächte jetzt fürs Zelten zu kalt sind. Ein Bergsteigerverein will dennoch Zelte aufbauen und Gäste auf Wanderungen mitnehmen. „Wir sagen nichts dazu, ob die Prophezeiungen stimmen oder nicht“, sagt Vereinschef Özgür Aydogan verschmitzt. „Auch Leute, die daran glauben, sind in unserem Lager willkommen.“

Freude über globale Aufregung

Ihre eigene Meinung über den 21. Dezember behalten viele Hoteliers indes lieber für sich. „Keiner weiß, was geschehen wird“, meint Hotelbetreiber Gülgün diplomatisch. „Das ist das, was der Maya-Kalender sagt.“

Viele Bürger freuen sich dennoch darüber, dass Şirince im Zentrum einer globalen Aufregung steht. „Ich wünschte, wir hätten immer solche Gerüchte“, sagt Ibrahim Katac, ein Bewohner Şirinces. „Das bringt uns neue Besucher.“

Auf einen Blick

Şirince (rund 700 Einwohner) ist ein ehemals griechisches, in den 1920er-Jahren von Türken übernommenes Bergdorf nahe Ephesos an der türkischen Ägäisküste. Sein Name bedeutet „angenehm“. Die Region hat laut Esoterikern eine besondere „Strahlung“, die den Ort vor dem Weltuntergang bewahren wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2012)

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