Fukushima: Netz aus Angst und Misstrauen

Fukushima Netz Angst Misstrauen
Fukushima Netz Angst Misstrauen(c) EPA (ALEX HOFFORD)
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Die Fischer von Fukushima dürfen wieder im Pazifik fangen. Aber das Gespenst radioaktiver Verseuchung fährt in ihren Booten stets mit. Und den Behörden mag kaum einer glauben.

Er weint und lacht. Küsst einen glitschigen Kraken und streichelt liebevoll ein paar Seeschnecken. „Ich bin tief bewegt, dass wir so weit gekommen sind“, schluchzt Hiroyuki Sato. „Ich weiß gar nicht, wohin mit meinen Emotionen.“ Dann umarmt der abgehärtete Naturbursche seine Kollegen im Matsukawaura-Hafen, die ähnliche Gefühle zeigen und ein paar türkisfarbene Tonnen mit Meeresgetier anstaunen, als wäre es ein eindrucksvolles Wunder. Sie verneigen sich tief und beten: „Bitte lass uns keine radioaktiven Substanzen finden.“ Ein Stoßgebet, an dem ihr Leben hängt.

Dieses Video zeigen die Fischer von Soma immer wieder. Es hält den denkwürdigen Tag fest, an dem sie vergangenen Sommer erstmals nach der Megakatastrophe vom 11.März2011 mit Erdbeben, Tsunami und Atomdesaster im 45 Kilometer südlich gelegenen Kernkraftwerk Fukushima wieder in See gestochen sind. „Alle waren äußerst angespannt“, bekennt der 56-jährige Sato, der die sechs Trawler anführte. „Wir sind so lange nicht mehr draußen gewesen.“ Weit über ein Jahr mussten die Fischer von der Soma-Futaba-Genossenschaft auf diesen Tag warten. Bis August wurden die Meeresfrüchte nur getestet, aber nicht verkauft. Alle Messungen – intern wie amtlich – ergaben unbedenkliche Werte.

Dann kam der große Augenblick. Fischer und Händler feierten auf Tokios berühmtem Fischmarkt Tsukiji das Comeback der populären Delikatessen aus Soma. Was bleibt ihnen auch anderes übrig? Sie leben davon. Einige verdrängen die Gefahr, andere bleiben ängstlich. Ein Durchbruch war das noch nicht, auch wenn die Fischer einen kräftigen Schluck Sake darauf getrunken haben. Fusayuki Nanbu, Vertreter Genossenschaft in Tokio, berichtet über direkte Ablehnung der Kunden: Hausfrauen erklärten dem alten Mann, dass sie trotz aller Beteuerungen keinen Fisch aus seiner Region essen wollen. Die Skepsis bleibt.

Auch im Küstendorf Akahama, wo es wieder nach frischer Farbe riecht, nach Neubau – und nach Fisch. Geübt nimmt der 66-jährige Masakazu Haga Makrelen aus. Die Fischverarbeitungsfabrik ist nur ein Provisorium, aber ein Lichtblick in dieser Gegend an der Otsuchi-Bucht, die am 11.März 2011 vom Tsunami und einem Feuer komplett verwüstet wurde. Mit Spenden und staatlicher Unterstützung konnte der rüstige Mann nach mehr als eineinhalb Jahren sein Business wieder starten. Haga hat sich mit drei Kollegen zusammengetan. Über das Internet baten sie um finanzielle Hilfe, die sie in Produkten zurückzahlen wollen, wenn ihr Wiedereinstieg gelingt. Mehr als 4000 Menschen überwiesen Geld.


Jagd auf Radioaktivität.
„Aus eigener Kraft hätten wir es nie schaffen können“, konstatiert Katsutoshi Urata, der vor der Katastrophe Sushi-Restaurants im Großraum Tokio beliefert hat. Bei aller Dankbarkeit bleibt der 50-Jährige besorgt. „Ich habe alle Kunden verloren, sie haben längst Verträge mit anderen Betrieben.“ Jetzt muss er sich um neue Klienten bemühen, was schwer ist. Die Männer haben zwar die Ärmel hochgekrempelt, wirtschaftlich auf die Beine gekommen sind sie noch nicht. Immer wenn die Spezialisten mit ihren Messgeräten kommen, gerät das Dorf in Panik. Die einfache Formel der Menschen: „Sie machen Jagd auf Radioaktivität.“

Auch Toshikazu Takahashi von der malerischen Halbinsel Oshika fürchtet sich davor. „Sie waren wieder hier“, sagt der 40-Jährige resigniert. „Sie haben neue Tests gemacht.“ Was hat er schon alles ausgehalten, ohne zu klagen: fünf Monate campieren unter einer blauen Zeltplane; seither lebt er in einem Behelfsquartier. In all dem Elend hat er ein Boot wieder flottmachen können. Stolz präsentierte er seinem Dorf die ersten Fänge, um dann realisieren zu müssen, dass keiner seine Fische will. In diesem Geschäft gibt es keine relative Radioaktivität. Die Spuren von Cäsium, die gefunden wurden, sollen zwar weit unter dem amtlichen Limit gelegen haben. „Aber es reichte, um unsere Kunden zu verschrecken. Ein vages Gerücht kann für uns das Aus sein“, weiß Takahashi. „Jedes Mal, wenn wir auslaufen, ist die Angst davor größer als die Hoffnung.“

Nachrichten und Bilder aus dem Atomkraftwerk Daichi in Fukushima sind im japanischen Fernsehen zwar seltener geworden, aber die Unfähigkeit der AKW-Betreiber, ihre brutalen Lügen, die lange außer Kontrolle geratene Lage in den verunglückten Reaktoren nach der Kernschmelze kann niemand vergessen. Für eine ganze Berufsgruppe ist das aber existenzbedrohend. „Was ist aus dem Kühlwasser geworden, das nach dem Desaster ins Meer geflossen ist?“, fragt sich die Öffentlichkeit weiter – und niemand weiß eine zuverlässige Antwort.

Die Behörden verhängten Fangverbote in den am stärksten belasteten Gewässern um die Reaktoranlage, testeten alle Tierarten und stellten fest, dass eigentlich nur jene auf dem Meeresboden lebenden stärker belastet sind. Nur? Wirklich? Um das Vertrauen der Konsumenten wiederzugewinnen, wurden die Grenzwerte für die erlaubte Strahlenbelastung von 500 Bequerel pro Kilogramm auf 100 gesenkt.

Regelmäßig messen Experten den Zustand von Tieren und Wasser. Noch immer stehen 36 Fischarten, die in den Gewässern vor Fukushima gefangen wurden, auf dem Index. Aber die Menschen bleiben auch gegenüber den amtlich als unbedenklich geltenden Fängen misstrauisch, weil die japanische Regierung von Beginn der Katastrophe an keine transparenten Daten und Erklärungen geliefert hat, und weil unabhängige ausländische Organisationen mit immer neuen Horrormeldungen Angst und Unruhe schüren.


Erhöhte Mengen Cäsium. So erklärte Greenpeace unlängst, dass die offiziellen Messstationen das Strahlungsrisiko der Bevölkerung in und um Fukushima systematisch als zu niedrig ausgewiesen haben. Für die Fischer erwies sich besonders die Studie eines Meeresbiologen, die im Oktober im angesehenen Wissenschaftsmagazin „Science“ veröffentlicht und weltweit zur Kenntnis genommen wurde, als Schlag ins Gesicht: Die radioaktive Belastung der Fischgründe im Nordosten des japanischen Inselreichs sei auch anderthalb Jahre nach dem Desaster in Fukushima nicht zurückgegangen, schrieb Forscher Ken Bruesseler. Erhöhte Mengen Cäsium sprächen dafür, dass sich radioaktive Partikel auf dem Meeresboden angesammelt haben.

Der US-Experte stützt sich auf die Untersuchungen der Behörden und hat die Ergebnisse von mehr als 8500 Einzelmessungen aufbereitet. Die Fische von Fukushima seien im Vergleich zu anderen Meeresgebieten überdurchschnittlich stark belastet. Bruesseler verlangt, dass diese Fischgründe geschlossen bleiben, für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Selbst wenn der Abfluss von strahlendem Wasser aus dem Reaktorwrack eines Tages gestoppt werden kann, würden die Probleme noch lange anhalten, könnte das gesamte Seeleben für Jahrzehnte vergiftet sein. Er wolle keine Panik auslösen, sagte Bruesseler – und hat natürlich genau das getan.

Für die Fischer von Fukushima sind solche Aussagen eine Katastrophe. Sie sind irritiert, betroffen, wütend und verängstigt gleichermaßen. Unter dem Imageschaden leidet die gesamte Fischereiindustrie Japans, bei Weitem nicht nur in der betroffenen Nordostregion. Aus Angst vor Verstrahlung boykottieren die wichtigsten Abnehmer aus China, Hongkong und Taiwan japanische Seafood-Produkte.


Solidarität vs. Angst.
Japans Bevölkerung – sofern sie überhaupt noch Anteil an dem Schicksal der Landsleute im Katastrophengebiet nimmt – ist tief gespalten. Die einen rufen solidarisch zum gezielten Kauf von Produkten aus der Region auf. Für andere kommt ein solches Risiko überhaupt nicht infrage. Den meisten geht es dabei gar nicht so sehr um Fukushima und seine Folgen, es ist das Gespenst einer unrühmlichen Vergangenheit, das misstrauisch macht.

„Es wurde immer wieder gesagt, wir sollen die Lehren aus der Minamata-Krankheit ziehen“, betonte der 72-jährige Takeshi Sugimoto unlängst auf einem Forum mit 700 Menschen in Tokio. „Aber die Regierung hat bei Fukushima die gleichen Fehler gemacht.“ Der Ort Minamata hat in Japan eine ähnlich elektrisierende Wirkung wie heute Fukushima. 1956 wurden dort Quecksilberverbindungen in Gewässer geleitet, das Hauptnahrungsmittel Fisch war vergiftet. Nach heutigen Schätzungen kamen bisher 17.000 Menschen gesundheitlich zu Schaden, rund 3000 sollen verstorben sein. „Wir haben damals gemerkt, dass etwas Schreckliches passiert, aber wegen fehlender Informationen wurde kein Fischfangverbot verhängt“, erinnert sich Minamata-Opfer Sugimoto.

Ebenso traut man heute den Behörden nicht – auch, weil unglaubliche Dinge bekannt werden. Hilfsgelder werden aus wahlpolitischen Gründen in nicht betroffene Gebiete umgeleitet, so in Infrastrukturprojekte der rund 2000km entfernten Südinsel Okinawa. Die von Tokio versprochene Kompensation bleibt aus. AKW-Betreiber Tepco hat bisher vergleichsweise lächerliche 90 Millionen Euro gezahlt. Immerhin erkennt der neue Tepco-Chef Naomi Hirose nun die „Wertminderungen“ für die Fischereiwirtschaft an. „Wenn sich die Produkte wegen der schlechten Publicity nicht zum normalen Preis verkaufen lassen, müssen wir die Differenz zahlen“, kündigte er an. Wann und wie viel, das sagte er nicht.

Fischhochburg

Der von Erdbeben, Tsunami und GAU betroffene Teil Japans sorgte bis zum Schicksalstag am 11. März 2011 für mehr als 30 Prozent aller Meeresfrüchte für den Binnenbedarf. Nach Schätzungen der amtlichen Fischereibehörde hat die Fischindustrie in den sieben Präfekturen im Nordosten der Pazifikküste materielle Schäden in Höhe von umgerechnet mehr als 115Milliarden Euro erlitten. 319Fischereihäfen sind komplett von den mörderischen Flutwellen zerstört worden, 25.014 Fischerboote wurden vom Meer verschlungen oder zerschlagen. In den am schwersten betroffenen drei Präfekturen Iwate, Miyagi und Fukushima sind bis zu 95Prozent der Flotten untergegangen. Miyagi und Fukushima melden einen Totalschaden bei den Häfen – alle 142 sowie zehn Anker- und Umschlagplätze gingen verloren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.01.2013)

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