Sexuelle Gewalt: Das harte Los indischer Frauen

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harte indischer Frauen(c) Reuters (PAUL HACKETT)
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Verraten, verkauft, vergewaltigt: Indien ist für Frauen eines der gefährlichsten Länder der Welt. Sexuelle Gewalt gehört zum Alltag, besonders in der Provinz. Die Opfer sind chancenlos.

Der Fall erschütterte den Subkontinent, ja die ganze Welt. Sechs Männer überfielen an einem frühen Sonntagabend im vergangenen Dezember eine 23-Jährige in einem Bus in Neu-Delhi und vergewaltigten sie eine Stunde lang. Zwei Wochen später erlag die Frau ihren schweren inneren Verletzungen. Durch Indien wogte eine Welle der Empörung. Schon kurz nach der Tat gingen in der Hauptstadt zehntausende Demonstranten auf die Straßen. Studenten, Mitglieder von Menschenrechtsgruppen und einfache Bürger schlossen sich zusammen, um dagegen zu protestieren, dass Frauen permanent sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Denn was in dem Bus geschah, ist kein Einzelfall. Mehr als 600 Vergewaltigungen sind allein in Neu-Delhi im vergangenen Jahr gemeldet worden, deutlich mehr als in jeder anderen Großstadt des Landes. Die Dunkelziffer könnte zehn Mal so hoch sein. Nur ein Mal wurde ein Täter verurteilt.


Die Opfer sind chancenlos. Dabei ist das Risiko für Frauen auf dem Land, Opfer eines sexuellen Übergriffs zu werden, sicher noch höher als in der Hauptstadt. Noch immer leben zwei Drittel aller Menschen in Indien in ländlichen Regionen. Vor allem in den bettelarmen Regionen entlang der Gangesebene betrachten häufig Mitglieder höherer Kasten Frauen aus den niedrigen sozialen Schichten als Freiwild. Vergewaltigungen stehen auf der Tagesordnung. Die Opfer haben in aller Regel keine Chance, gegen die Täter vorzugehen: Die Polizei macht meist mit den höheren Kasten gemeinsame Sache. Unzählige Vergewaltigungen ereignen sich auch in Polizeirevieren. In diesen Regionen werden Frauen zudem sehr häufig zu Opfern häuslicher Gewalt.

Seit etwa 20 Jahren nimmt eine Form von Gewalt gegen Frauen zu, die bereits vor der Geburt beginnt: Paare, die es sich leisten können, lassen per Ultraschall das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes bestimmen. Das ist zwar streng verboten, viele Ärzte bieten diese Dienstleistung jedoch offensichtlich an. Stellt sich heraus, dass der Fötus weiblich ist, lassen viele Eltern das Kind sofort abtreiben. Zu groß ist offenbar die Sorge, eines Tages wegen der Mitgift, die Brauteltern bei Hochzeiten zahlen müssen, in den Ruin gestürzt zu werden. Die Folge: Fast überall in Indien gibt es mehr Männer als Frauen. Im Bundesstaat Haryana, der westlich an Delhi grenzt, kommen auf 1000 Männer nur noch 877 Frauen. Manche Experten glauben, dass dieser Frauenmangel dazu führen wird, dass in den betroffenen Regionen die Gewalt gegen Frauen zunehmen wird.

Dieses katastrophale demografische Missverhältnis hat schon jetzt schwerwiegende Folgen für Hunderttausende von Mädchen und Frauen: Organisierte Menschenhändlerringe kaufen in den Hungerstaaten Nordindiens Mädchen auf und verhökern sie teuer an Dealer in Bundesstaaten, in denen Frauen knapp geworden sind. Die Opfer werden dann zur Heirat gezwungen oder landen in der Prostitution oder Sklaverei.

Nicht ohne Grund kommt eine vor wenigen Monaten veröffentlichte Studie zu dem Schluss, dass die Lage der Frauen in Indien miserabel ist. Unter den G20-Staaten, den 19 wirtschaftlich stärksten Ländern der Welt und dem EU-Raum, bietet Indien die schlechtesten Bedingungen für Frauen. Sogar Saudiarabien schneidet besser ab.

Die Thomson Reuters Foundation kommt in einer Studie von 2011 zu dem Schluss, dass Indien das viertgefährlichste Land der Welt für Frauen ist. Selbst das Bürgerkriegsland Somalia wird für Frauen als sicherer eingestuft. Schlechter als in Indien ergeht es der Studie zufolge Frauen nur noch in Afghanistan, dem Kongo und in Pakistan.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.02.2013)

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