Arabische Welt: Wo sexuelle Gewalt ungesühnt bleibt

Die Massenvergewaltigungen auf dem Tahrir-Platz in Kairo haben einen internationalen Aufschrei ausgelöst. Doch sexuelle Gewalt gehört nicht nur in Ägypten zum weiblichen Alltag. In vielen arabischen Ländern verfügen Männer in alter patriarchaler Manier über Frauen – und tätliche Übergriffe bleiben vielerorts ungestraft.

Als die scheidende Hillary Clinton bei ihrem letzten Online-Interview mit jungen Leuten rund um den Globus gefragt wurde, was sie in ihrer Amtszeit für den Nahen Osten nicht erreicht habe, zögerte sie keine Sekunde. „Frieden, Wohlstand sowie mehr Rechte und Chancen für die Frauen“, antwortete sie der jungen Libanesin aus Beirut. Die langjährige US-Außenministerin weiß, wovon sie spricht. Als sich vor einigen Monaten bei Unruhen auf dem Tahrir-Platz eine Horde Soldaten wüst an einer jungen Demonstrantin verging, sie mit Füßen ins Gesicht trat und am Ende halbnackt auf dem Asphalt liegen ließ, reagierte sie hell empört. „Es ist eine Schande“, schimpfte sie aus dem fernen Washington und sprach von „schockierender Gewalt“ gegen Frauen und einem „tief beunruhigenden Muster“. Frauen hätten genauso wie die Männer im Arabischen Frühling ihr Leben riskiert. „Diese systematische Erniedrigung von Frauen aber entehrt die Revolution, blamiert den Staat und ist eines so großen Volkes unwürdig.“

In den 18 Tagen des Aufstands gegen Hosni Mubarak seien die Frauen gleichberechtigt mit dabei gewesen, schrieb kürzlich die junge Kuratorin einer Ausstellung in Kairo zum Thema sexuelle Gewalt. Doch „dieses Utopie dauerte nicht lange, die Gebrechen der Gesellschaft, die auf so wundersame Weise verschwunden schienen, kehrten mit voller Wucht zurück“.

Massenhafte Gewalttaten. „Warum hassen sie uns?“, fragte die ägyptische Feministin Mona Eltahawy in einem Essay – ihrer Anklage gegen männliche Gewalt, die in der arabischen Welt Furore machte und wochenlang die Talkshows im Nahen Osten beschäftigte. Die 44-Jährige wurde zuvor von Polizisten schwer misshandelt – ausgerechnet im Gebäude des Innenministeriums. Linker Arm und rechte Hand wurden ihr gebrochen. „Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass sie eine Frau so fürchterlich verprügeln würden“, sagt sie rückblickend.

Und so sind die jüngsten Vergewaltigungen von mehr als 30 Frauen auf dem Tahrir-Platz am zweiten Jahrestag der Revolution vor einer Woche nur die Spitze des Eisbergs. Was am Abend des Rücktritts von Hosni Mubarak mit dem Missbrauch der CBS-Journalistin Lara Logan durch Dutzende junger Männer begann, ist inzwischen zu einem Massenverbrechen angewachsen, an dem sich bei Großdemonstrationen auf dem legendären Revolutionsplatz stets mehrere hundert Männer beteiligen. Empört äußerte sich jetzt auch die Menschenrechtskommissarin der Vereinten Nationen, Navi Pillay. „Ich verurteile auf Schärfste, dass die Polizei diese Verbrechen nicht verhindert und die Staatsanwaltschaft bis heute nur eine einzige Anzeige erstattet hat, obwohl mehrere hundert Männer an diesen abscheulichen Taten beteiligt waren“, sagte sie. Zudem gebe es viel zu geringe Anstrengungen, sexuelle Belästigungen und sexuelle Gewalt einzudämmen, die in zahlreichen ägyptischen Städten gang und gäbe seien.

Bedrückender Frauenalltag. Übergriffe auf Frauen sind besonders in Ägypten, teilweise auch in anderen Nationen des Nahen Ostens, verbreitet, nicht nur bei Demonstrationen, auch im Alltagsleben und auch schon vor dem Arabischen Frühling.

Von einem „sozialen Krebs“ sprach 2008 eine Studie des „Ägyptischen Zentrums für Frauenrechte“ (ECWR), nach der 83 Prozent der ägyptischen Frauen sexuell belästigt worden sind – egal ob verschleiert oder unverschleiert. „Ich werde jeden Tag hundert Mal angemacht. Ich habe alles versucht, dies zu stoppen, aber es hört einfach nicht auf“, berichtet eine junge Frau, die als Verkäuferin arbeitet. „Ich trage weite Kleider, schminke mich nicht mehr, tue alles, um meinen Körper zu verbergen.“ Einmal seien ihr zwei Männer gefolgt, „plötzlich packten sie mich vor aller Augen zwischen den Beinen. Ich schrie und rannte weg, keiner der Passanten griff ein.“

Ägypten sei eine männerdominierte Gesellschaft, und „die Männer sehen es als ihr Recht an, Frauen anzugrapschen oder ihnen anzügliche Bemerkungen hinterherzurufen“, sagt Shahira Amin, frühere Starmoderatorin des ägyptischen Fernsehens, die während des Aufstands gegen Hosni Mubarak die Brocken hingeworfen hat, weil sie nicht länger Lügen hat verbreiten wollen. In den überfüllten U-Bahnen oder Bussen haben die Täter leichtes Spiel. Für Frauen dagegen ist die tägliche Fahrt zur Arbeit oft eine demütigende und nervenaufreibende Tortur – eindrucksvoll dokumentiert in dem populären Spielfilm „Cairo 678“. „Egal, ob im Bus oder Minibus, jedes Mal fühle ich, wie eine Hand versucht, mich zu berühren“, berichtet eine junge Studentin. „Es kommt derart häufig vor, dass ich den Sitz hinter mir inzwischen ständig im Auge behalte – als wäre ich verrückt.“

Unumschränkte Herrscher. Nach Einschätzung des ECWR aber ist auch in den Familien die sexuelle Gewalt beträchtlich. Statistiken gibt es nicht, das Ausmaß liegt im Dunkeln. Die wenigen angezeigten Fälle, von denen die Aktivistinnen erfahren, landen praktisch nie vor Gericht. Viele Wohnungen sind überfüllt, Väter oder Onkel in dem patriarchalischen Milieu nahezu unbeschränkte Herrscher. Mädchen und junge Frauen aber wagen es nicht, ihre Peiniger aus der Verwandtschaft anzuzeigen. „Die Opfer sind traumatisiert und fürchten ihre soziale Stigmatisierung. Sie haben keine Chance“, sagt Hoda Zakaria, Professorin für politische Soziologie an der Universität von Zaqaziq, die einen Dokumentarfilm zu dem Thema gedreht hat. „In patriarchalischen Gesellschaften werden bei Vergewaltigungen nicht die Täter bestraft, sondern die Opfer.“ Sie habe in Oberägypten Leute auf dem Land befragt, was sie tun würden, wenn ihre Tochter von zehn Männern vergewaltigt worden wäre. „Sie antworteten, sie würden zuerst die junge Frau töten und dann überlegen, was mit den Tätern zu geschehen habe.“ Scham und Ehre stünden in ihrem Wertesystem an absolut erster Stelle. „Gerechtigkeit und Gleichbehandlung haben da keinen Platz.“

Das zeigt auch das Gesamtbild für die arabische Region, das der Gender Gap Index des Genfer Weltwirtschaftsforums zeichnet, der Jahr für Jahr Fortschritte bei der Gleichstellung von Frauen bewertet. So landete auch 2011 wieder – trotz des Arabischen Frühlings – kein arabisches Land auf den ersten 100 Plätzen.

Von 135 untersuchten Nationen kam Ägypten auf Rang 123, als arabischer Spitzenreiter belegten die Vereinigten Arabischen Emirate Platz 103, Tunesien Platz 108. Die beiden Nachbarn Saudiarabien und Jemen sind zwar beim Pro-Kopf-Einkommen Lichtjahre voneinander entfernt, beim Mangel an Frauenrechten liegen sie jedoch ganz eng beisammen. Auf den letzten Plätzen 131 und 135 gehören sie zu den Schlusslichtern des gesamten Globus.

So existiert in beiden Staaten der Arabischen Halbinsel nach wie vor kein Mindestalter für Frauen bei der Hochzeit. Minderjährige können an betagte Männer verheiratet werden, die die Eltern mit einem üppigen Brautgeld ködern. Nicht selten stammen die Kinder aus armen Dörfern in Ägypten. Deren postrevolutionäre Parlamentsmehrheit aus Muslimbrüdern und Salafisten jedoch weigerte sich, in die neue Verfassung ein Verbot des Kinderhandels aufzunehmen, was diese Praxis des sexuellen Missbrauchs unter Strafe gestellt hätte.

Ähnlich wie in Ägypten beklagen nach einer Studie von Menschenrechtlerinnen auch im Jemen 90 Prozent aller Frauen, Opfer sexueller Übergriffe zu sein. Seitdem läuft die Website der Initiative über mit anonymen Erfahrungsberichten. In ihrem sozialen Umfeld jedoch schweigen die meisten Frauen, aus Scham oder weil sie ihre Arbeit nicht verlieren wollen. Einmal sei sie zur Polizei gegangen, berichtete eine 24-jährige Büroangestellte. „Danach war mir klar, es hat keinen Zweck.“ Jetzt ertrage sie alles ohne ein Wort und weine sich nur noch bei Allah aus.

Täter: jung, arbeitslos. Die sozialen Wurzeln der permanenten sexuellen Übergriffe im öffentlichen Raum seien nach Ansicht von Said Sadek, Professor für Soziologie an der Amerikanischen Universität in Kairo, in erster Linie zu suchen in „Armut, Arbeitslosigkeit und dem Mangel an Lebenschancen“. Auf dem umkämpften Arbeitsmarkt betrachten Männer die Frauen als unliebsame Konkurrenten und machen ihnen deshalb das Leben in der Öffentlichkeit schwer. Die konkreten Täter seien vor allem junge Arbeitslose, die die Kosten für eine Hochzeit nicht aufbringen können. „Sie sehen in diesen Übergriffen für sich die einzige Möglichkeit, ihre Sexualität auszuleben.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.02.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.